Auswirkungen eines Kristallisationkeims auf Phasenübergänge fern des thermodynamischen Gleichgewichts
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Phasenübergänge in zweidimensionalen Systemen werden durch topologische Defekte getrieben - für die Etablierung dieser Idee in den 1970er Jahren sind David Thouless und Michael Kosterlitz mit dem Nobelpreis für Physik 2016 geehrt worden. Die Ausarbeitung dieses Formalismus für strukturelle Phasenübergänge haben Bertrand Halperin, David Nelson und Peter Young durchgeführt. Zweidimensionale Systeme zeigen demnach kontinuierliche Phasenübergange mit kritischen Fluktuationen des Ordnungsparameters, wobei sich die Ordnung und die Symmetrie bei Überschreiten der kritischen Temperatur global ändern. Die Beschreibung des zweidimensionale Schmelzen wird heute KTHNY-Theorie genannt. Wichtig für das Folgende ist, dass es sich um Phasenübergänge mit kritischen Fluktuationen handelt. Spontane Symmetriebrechung ist ein sehr allgemeines Phänomen und wird zur Beschreibung von Strukturbildung auf völlig unterschiedlichen Energieskalen diskutiert, unter anderem beider Symmetriebrechung des Higgsfeldes nach dem Higgs-Kibble Mechanismus, der den Fermionen und intermediaren Eichbosonen massiven Charakter verleiht. Tom Kibble hat nun bei Überlegungen zum Symmetriebruch eines primordalen, zweikomponentigen skalaren Higgsfeldes, der kurz nach dem Urknall bei Expansion und Abkühlung des Universums stattgefunden haben soll, festgestellt, dass die Idee eines globalen Symmetriebruches zu Wiedersprüchen mit dem Einsteinschen Kausalitätsproblems bzw. dem Nahwirkungsprinzips steht: Regionen, die zum Zeitpunkt des Symmetriebruches keinen Überlapp ihres jeweiligen Ereignishorizontes haben (neben der Ausdehnung des Raumes selber, primar gegeben durch die Lichtgeschwindigkeit), können nicht notwendig den selben Erwartungswert des Ordnungsparameters des symmetriegebrochenen Feldes annehmen. Für das Higgsfeldes, aber auch jede quantenmechanische Wellenfunktion ware dies die Phase des Feldes, für strukturelle Phasenübergänge die Richtung der Kristallachsen. Regionen, die nicht durch Kausalität verbunden sind, werden im allgemeinen unterschiedliche (energetisch gleichberechtigte, d.h. entartete) Erwartungswerte annehmen, die von Defektstrukturen voneinander getrennt sind. Abhängig von der Dimension des Systems und des Ordnungsparameters können dies Monopole, Strings, Korngrenzen oder Texturen sein. Als Nebensatz sei erwähnt, dass Überreste solcher topologischen Defekte im Universum bisher nicht gefunden worden sind. Dies ist einer der Hauptgründe warum ein inflationäres Urknallmodell entwickelt wurde: Die exponentiell schnelle Expansion des Raumes während der ersten 10-26 Sekunden hat alle Defekte so stark verdünnt, dass sie jenseits unseres Ereignishorizontes liegen. Wojciech Zurek hat diese Überlegung auf kondensierte Materie übertragen, die Defekte in suprafluide Helium zum Beispiel sind demnach Strings aus normalfluidem Helium. Um die Defektdichte zu quantifizieren stellte er folgende Überlegung an. Jedes System, das kritisches Verhalten zeigt, muss aus dem Gleichgewicht fallen, wenn es mit nichtverschwindenden Raten gekühlt wird. Dies ist dann der Fall, wenn die Korrelationszeiten der Fluktuationen des Ordnungsparameters größer werden, als die Zeit die beigegebener Kühlrate benötigt wird, um die Übergangstemperatur zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt wird ein Fingerabdruck der kritischen Fluktuationen genommen, der das spatere Langzeitverhalten dominiert. Bei schnellen Abkühlraten fällt das System früh aus dem Gleichgewicht, die Korrelationslangen sind kurz und umgekehrt. Die Domanengröße ist dann eine algebraische Funktion der Kühlrate, bedingt durch die algebraische Divergenz der Korrelationszeiten der Ordnungsparameterfluktuationen. Das Auftreten von Defekten bei kontinuierlichen Phasenübergängen unter endlichen Abkühlraten wird gemeinhin Kibble-Zurek Mechanismus genannt. Im hiesigen Projekt haben wir den Symmetriebruch im Nichtgleichgewicht an kolloidalen Monolagen studiert. Kolloidale Monolagen sind Brownsche Partikel, die an eine absolut ebene Grenzfläche sedimentiert sind und die sich mit Videomikroskopie und digitaler Bildverarbeitung auf ’atomarer’ Skala beobachten lassen. Derart ist die gesamte relevante Phasenrauminformation des Systems zugänglich. Mit diesen Experimenten in einem System der weichen kondensierten Materie konnten wir den Kibble-Zurek Mechanismus bestätigen: Das Skalenverhalten der Domanengröße und Defektdichte stimmen bei Variation der Kühlraten über drei Größenordnungen mit den Vorhersagen des Kibble-Zurek Mechanismus überein, wenn dieser auf die Kosterlitz-Thouless Universalitätsklasse angewendet wird. Die Ergebnisse dieses Projektes sind mit dem Gustav-Hertz-Preis 2016 der Deutschen Physikalischen Gesellschaft ausgezeichnet worden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Specific heat in two-dimensional melting Phys. Rev. Lett. 113, 127801 (2014)
S. Deutschländer, A. Puertas, G. Maret, P. Keim
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Grain boundary induced melting in quenched polycrystalline monolayers. Phys. Rev. E 92 060302 (2015)
S. Deutschländer, C. Boitard, G. Maret, P. Keim
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Kibble-Zurek mechanism in colloidal monolayers Proc. Natl. Acad. Sci. 112 6925 (2015)
S. Deutschländer, P. Dillmann, G. Maret, P. Keim
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Symmetriebruch fern des Gleichgewichts. Physik Journal 09, 59 (2016) [Preisträgerartikel zum Gustav-Hertz-Preis 2016 der Deutschen Physikalischen Gesellschaft]
P. Keim