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Die Etablierung humangenetischer Beratungsstellen in der DDR im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit

Antragstellerin Dr. Susanne Doetz
Fachliche Zuordnung Wissenschaftsgeschichte
Förderung Förderung von 2013 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 239941624
 
Erstellungsjahr 2017

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Angesichts der schwierigen Startbedingungen für humangenetische Forschung und Praxis in der SBZ/DDR nach 1945 (NS-Erbe, Lyssenkoismus, fehlende Institutionen) war die zentrale Fragestellung, welche politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen letztendlich zur Institutionalisierung der humangenetischen Beratung in den 1970er Jahren führten und wie diese praktisch umgesetzt wurde. Die Humangentiker_innen mussten in den 1970er Jahren nicht bei null anfangen: Auch in der Lyssenko-Ära bestand das Konzept von „Erbkrankheiten“ fort und Wissenschaftler_innen praktizierten humangenetische Forschung zumindest in einigen Nischen. Letztendlich konnten sich Humangenetiker_innen die Systemkonkurrenz mit dem Westen zunutze machen, um humangenetische Forschungen und im Zuge dessen den Ausbau humangenetischer Beratungsstellen voranzutreiben. Die Etablierung der humangenetischen Beratung kann somit als ein Beispiel gesehen werden, wie es Wissenschaftler_innen gelang, unter den Bedingungen einer Parteidiktatur ihre Interessen erfolgreich zu vertreten. Dies war auch deshalb möglich, weil die humangenetische Beratung mit ihrer Deklaration als Prophylaxe und ihrer Postulierung, die Säuglingssterblichkeit zu senken, an zentrale Eckpfeiler der DDR-Gesundheitspolitik andockte. In ihrer Zielsetzung – die Geburt behinderter Kinder zu verhindern und die Geburt gesunder Kinder zu fördern – unterschied sich die humangenetische Beratung in der DDR nicht von anderen, auch nicht-sozialistischen Staaten. Sie transportierte damit normative Vorstellungen einer gesunden Gesellschaft, in der Behinderung als Leid angesehen wurde, das verhindert werden sollte. Auch wenn die damalige genetische Beratung nicht den heutigen Vorstellungen einer non-direktiven, also ergebnisoffenen und möglichst neutralen, Beratung entsprach – die Berater_innen „empfahlen“ und „rieten“ stattdessen – so war die Beratung nicht einfach ein topdown-Prozess. Nicht nur, dass sich die Berater_innen von jeglichem Zwang distanzierten, sie waren auch auf die aktive Teilnahme der Ratsuchenden angewiesen, um das für eine Empfehlung benötigte Wissen zu generieren. Zentraler Bestandteil der Beratungen war nicht die Chromosomenanalyse mittels zytogenetischer Untersuchung, sondern der Stammbaum. Kritik an der humangenetischen Beratung insbesondere im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch kam von kirchlicher Seite. Limitierender Faktor der humangenetischen Beratung in der DDR waren aber weder ideologische noch ethische Gründe, sondern vielmehr materielle: das Fehlen von Ressourcen, wie Räumen, Laborkapazitäten und Ultraschallgeräte.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Die Etablierung der humangenetischen Beratung in der DDR in den 1970er Jahren. Arbeitstagung der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendmedizin e.V.: Kindergesundheit nach 1945: Zur Zeitgeschichte der Kinderheilkunde in der Bundesrepublik und der DDR, Berlin 8.11.2013
    Doetz, Susanne
  • „In der vordersten Front der prophylaktischen Medizin” – Die Etablierung der Humangenetik in der DDR der 1970er Jahre. 32. Treffen Norddeutscher Humangenetiker, Greifswald 23.11.2013
    Doetz, Susanne
  • The use of oral history to explore the establishment of genetic counselling in the GDR during the 1970s and 1980s. 6th International Workshop on Genetics History and Medicine, Satellite Symposium to the 2015 European Society of Human Genetics Meeting: Humane Gene Mapping. – Oral History of Human Genetics, Glasgow 6.6.2015
    Doetz, Susanne
  • Für „individuelle Gesundheit und Familienglück“. Humangenetische Beratung in der DDR. In: Monatsschrift Kinderheilkunde 164. Supplement 1 (2016): Pädiatrie nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Hrsg. von Annette Hinz-Wessels und Thomas Beddies, S. 59-63
    Doetz, Susanne
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s00112-016-0057-3)
  • “The Happiness of the Individual is of Primary Importance” - Genetic Counseling in the GDR. International Workshop: The Establishment of Genetic Counseling in the Second Part of the 20th Century, Berlin 2-3.2.2016
    Doetz, Susanne
  • History of Human Genetics. Aspects of its Development and Global Perspectives. Springer, Cham 2017. VIII, 576 S.
    Petermann, Heike/Harper, Peter/Doetz, Susanne (Hrsg.)
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-319-51783-4)
  • “The Happiness of the Individual Is of Primary Importance”. Genetic Counselling in the GDR. In: Petermann/Harper/Doetz, History of Human Genetics, Cham 2017, S. 391-417
    Doetz, Susanne
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-319-51783-4_23)
 
 

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