Detailseite
Projekt Druckansicht

Die Mission der englischen Philadelphier in Deutschland, der Aufbau ihrer Netzwerke und die sprachliche Transmission ihres Gedankenguts

Antragsteller Professor Dr. Martin Mulsow, seit 10/2018
Fachliche Zuordnung Evangelische Theologie
Frühneuzeitliche Geschichte
Förderung Förderung von 2013 bis 2019
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 241503620
 
Erstellungsjahr 2019

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt untersucht die frühneuzeitlichen Briefnetzwerke der selbsternannten „Kinder Gottes“, die „Philadelphia“ aufbauen wollten – eine suprakonfessionelle Gemeinschaft der „Bruderliebe“. Angelehnt an Jacob Böhme (1575-1624) wollten die radikalsten Philadelphier auch „Juden, Türken und Heiden“ einbeziehen, da sie glaubten, dass auch diese Menschen „das Licht Gottes“ in sich haben müssten. Die Untersuchung der in der Forschungsbibliothek Gotha und anderen Archiven aufbewahrten Briefe der Londoner „Philadelphia Society“, aber auch anderer, die sich als „Philadelphier“ verstanden, korrigiert frühere Darstellungen, die von einem einfachen Wissenstransfer zwischen England und Deutschland ausgingen und die zentrale Rolle der Niederlande als „Brücke“ übersahen. Seit dem frühen 17. Jahrhundert entwickelten sich die Niederlande als Zufluchtsort deutscher Exilanten zu einer Drehscheibe für die Übersetzung und Verteilung radikaler Literatur. Um die „Kinder Gottes“ in allen Ländern zu erreichen, wurden die Philadelphier Pioniere der Globalisierung, als sie Texte und Missionen aussandten, um die „Rechtschaffenen“ zu sammeln. Philadelphische Briefnetzwerke dienten als diskursive „Räume“, wo Teilnehmer ungeachtet von Geschlecht und Stand, religiöse und soziale Themen diskutierten. Das Ziel einer universellen Reformation durch transnationale und transkonfessionelle Briefnetzwerke wird gewöhnlich mit der „Gelehrtenrepublik“ in Verbindung gebracht, obwohl dieses Ideal zuvor bereits von radikalen religiösen Reformern angestrebt wurde. Ein Unterschied zwischen den zwei Briefnetzwerken besteht aber sicher in der viel größeren Rolle der Frau in philadelphischen Kreisen. Für Frauen und Laien dienten religiöse Briefnetzwerke als alternative Bildungsstätte. Die Philadelphier konnten öffentlichen Diskussionen zu Themen wie Toleranz sowie den Rechten von Minderheiten und Frauen beeinflussen. Böhmes Rückgriff auf frühchristliche Vorstellungen eines weiblichen Elements in der Gottheit – „Gottes Weisheit“ (Griechisch, Sophia) führte zu sozialen Experimenten in philadelphischen Kreisen. Die verstärkte weibliche Beteiligung trug zu einer höheren sozialen Akzeptanz von Frauen in bestimmten Rollen, insbesondere als Autorinnen, bei. Eine andere öffentliche Debatte, die von Philadelphiern entfacht wurde, war die Frage, ob ein liebender Gott Sünder für alle Ewigkeit verdammen könnte. Diese Diskussion über das Ausmaß der Vergebung Gottes wurde zu einer der wichtigsten Debatten der Zeit, als Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und andere Denker, sich äußerten und so den „Niedergang der Hölle“ im europäischen Denken einleiteten. In englischer Übersetzung verwoben sich Böhmes Ideen mit dem frühen Quäkertum, und im Laufe des 17. Jahrhunderts pflegten Quäker und Böhmisten einen regen Austausch. In den nordamerikanischen Kolonien haben sich Philadelphier, oft in Verbindung mit Quäkern, für Minderheiten eingesetzt und gegen die Sklaverei gearbeitet. Der deutsche Beitrag zu frühen Debatten über Bürgerrechte in den Kolonien wurde von der überwiegend englischsprachigen Geschichtsschreibung bisher kaum erkannt. Insofern hat die Forschung über Jacob Böhme und die Philadelphier, die den Weg für die modernen Menschenrechte ebneten, das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Debatten – insbesondere über Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten – zu leisten, wie zahlreiche Medienberichte bezeugen (z.B. Süddeutsche Zeitung, 25.10.2017, S. 12; Die Zeit, 07.09.2017, S. 38; FAZ, 14.08.2019, „Geisteswissenschaften“, S. 3).

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • “Noch eine ‘res publica literaria’? Die Briefe der Unsichtbaren Kirche als diskursiver Raum“ in: Aufklärung 28 (2016): 135-172
    Lucinda Martin
  • “‘God’s Strange Providence’: Jane Lead in the Correspondence of Johann Georg Gichtel,” in: Jane Lead and her Transnational Legacy. Hrsg. Ariel Hessayon. New York 2016: 187-212
    Lucinda Martin
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1057/978-1-137-39614-3_9)
  • Jacob Böhme and Early Modern Philosophy. Sonderausgabe von ARIES: Journal for the Study of Western Esotericism. Vol. 18. No. 1 (2018)
    Lucinda Martin (ed.)
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1163/15700593-01801011)
  • Jacob Böhme’s World. Leiden 2018
    Bo Andersson, Lucinda Martin, Leigh T.I. Penman, Andrew Weeks (eds.)
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1163/9789004385092)
  • Lay Theology in the Early Modern Period. Sonderausgabe Church History and Religious Culture. Vol. 98. No. 1 (2018)
    Lucinda Martin (ed.)
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1163/18712428-09801024)
  • “Jacob Böhme at University: The Historiographic Exile of a Seventeenth-Century Philosopher” in: ARIES: Journal for the Study of Western Esotericism 18, No. 1 (2018): 3-20
    Lucinda Martin
  • “More than Piety: The Historiographic Neglect of Early Modern Lay Theology” in: Church History and Religious Culture 98, No. 1 (2018): 1-30
    Lucinda Martin
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1163/18712428-09801024)
  • Jacob Böhme. Drey Principien – Three Principles. Synoptic translation and critical edition. Translation by Andrew Weeks and Leigh T.I. Penman in Collaboration with Lucinda Martin. Leiden 2019
    Andrew Weeks and Leigh T.I. Penman; Lucinda Martin; Jacob Böhme
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1163/9789004395275)
 
 

Zusatzinformationen

Textvergrößerung und Kontrastanpassung