Lebanese Global Villages: Practices of reproduction and constitution of global communities
Final Report Abstract
Ende des 19. Jahrhunderts begann eine bis heute anhaltende, kontinuierliche Migration aus dem Gebiet des heutigen Libanons. Es bildeten sich verstreute Gemeinschaften, die zusammen die libanesische Diaspora bilden. Viele Gemeinschaften nutzen den Herkunftsort als Identität stiftendes Element und können daher als ‚Diasporic Village Communities‘ bezeichnet werden. Mitglieder können mehreren Gemeinschaften gleichzeitig angehören, da sie sich pragmatisch für die Zugehörigkeit zu sozialen und politischen Organisationen entscheiden. Die Grenzen der Gemeinschaften sind permeabel, sodass auch Personen, die keine verwandtschaftlichen Beziehungen zum Herkunftsdorf haben, integriert werden, wenn sie sich für die jeweilige Gemeinschaft engagieren. Der methodische Zugriff gelang über den Aufenthalt in den für die Studie ausgewählten maronitischen Dörfer Kfarsghab, Miziara, Blouza, Bcharre, Hadath el Jobbeh, Diman, Ehden, Hadchit und Aitou. Dadurch erhielten die Projektmitarbeiter einen vertrauensvollen Zugang zu den Mitgliedern der Gemeinschaften weltweit. In einer vergleichenden ‚Perspektive Übersee‘ wurden in den Ländern Australien, Kanada, USA und UAE, über die sich die einzelnen Gemeinschaften erstrecken, Differenzen erkannt. So verhalten sich die Mitglieder einer ‚Diasporic Village Community‘ in jedem Land anders, entsprechend der gegebenen Rahmenbedingungen. Verschiedene seit den 1990er Jahren in den Sozialwissenschaften entwickelte Konzepte wurden herangezogen, um die in der empirischen Arbeit identifizierten Zusammenhänge theoretisch einzubetten. Die Gemeinschaften sind durch ein globales Geflecht enger kommunikativer, emotionaler, ökonomischer und symbolischer Beziehungen unter ihren Mitgliedern gekennzeichnet, das sich in den alltäglichen Praktiken (z. B. Essen, Begrüßung) sowie bei regelmäßigen Treffen (z. B. Beerdigungen, Veranstaltungen), die an konkreten Orten (z. B. Vereinsgebäude, Kirchen) und in der digitalen Welt stattfinden, zeigt. Die digitale Welt, in der Mitglieder von ‚Diasporic Village Communities‘ miteinander kommunizieren, kann als Spiegel der Lebenswelt interpretiert werden, wobei eine Wechselwirkung mit der realen Welt besteht. Die vier Dimensionen ‚Praktiken‘, ‚Treffen‘, ‚Orte‘ und ‚Abbilder‘ lassen sich in Hinblick auf weitere Eigenschaften ausdifferenzieren und sind von ‚Flexibilität’, ‚Situativität’, ‚Mobilität’ und ‚Kohäsivität’ gekennzeichnet, was die Stärke und innere Dynamik der Gemeinschaften ausmacht. Grundlegend für das Verständnis der lebensweltlichen Praktiken der ‚Diasporic Village Communities‘ sind die drei gemeinschaftsimplizierenden sozialen Imperative der libanesischen Gesellschaft ‚Pflicht‘ (Wejbet), ‚Beziehungen‘ (Wasta) und ‚Brauch‘ (3adeit). Für die Aufrechterhaltung von sozialen und kulturellen Praktiken ist ökonomischer Erfolg eine Voraussetzung, weshalb wirtschaftliche Aktivitäten nicht von den sozialen zu trennen sind. Bei der Analyse von ‚Diasporic Village Communities‘ müssen nicht nur die sozialen Praktiken der Mitglieder, sondern insbesondere die Individuen, die durch ihre Handlungen herausragend zur Kohäsion der Gruppe beitragen, in den Blick genommen werden. In Verbindung mit den unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen lassen sich die Differenzen einer Gemeinschaft in den jeweiligen Ländern erklären. Das Forschungsprojekt leistet damit ein wichtiges Gegengewicht zu vorherrschenden essentialisierenden Sichtweisen, die Diasporagemeinschaften als homogene, kollektiv handelnde Gruppen konzeptualisieren. Mit einem unterschiedlichen Grad an Eingebundenheit übernehmen Individuen verschiedene Funktionen als ‚Leader‘, Vermittler, Geschichtsschreiber, Beobachter und ‚Social Media‘-Koordinator. Die Zunahme des digitalen Austauschs von Informationen, die unkomplizierte Möglichkeit des Ortswechsels und die politische Liberalisierung in der globalisierten Welt führen dazu, dass die weltweit verbundenen Gemeinschaften an wirtschaftlichem und politischem Einfluss gewinnen. ‚Diasporic Village Communities‘ bilden keine Gegenmacht zum Nationalstaat, sondern sind meist sehr gut in die Gesellschaften integriert und mit den globalen, nationalen und lokalen staatlichen Institutionen verwoben. Gleichzeitig verfolgen sie Strategien der inneren Kohäsion und der äußeren Abgrenzung, die gegenläufig erscheinen, sich aber als ökonomischer Vorteil für die Gemeinschaften erweisen. Die theoretischen Aussagen zu ‚Diasporic Village Communities‘ können zum Verständnis von zivilgesellschaftlichen, informellen und unsichtbaren Organisationen beitragen.