Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Zentraler und bestimmender Gegenstand epischer Dichtung, so der Ausgangspunkt des Projekts, ist seit jeher der Krieg oder, allgemeiner gefasst, der Konflikt. Konflikte sind die Folge konträrer Machtinteressen und der Ausdruck des Aufeinanderprallens divergenter und daher in Widerstreit tretender Ideologien. Im Rahmen des DFG-Projekts wurde anhand eines repräsentativen Corpus frühneuzeitlicher, sowohl lateinisch- als auch volkssprachlicher Epik untersucht, wie sich zum einen ideologische Konflikte im epischen Text darstellen und ihn strukturieren und welche Veränderungen zum anderen der epische Code unter dem Einfluss veränderter ideologischer Rahmenbedingungen über die Jahrhunderte erfährt. Ein besonderes Augenmerk lag hierbei auf den Kategorien der Zeit und des Raums, angeregt u.a. durch die Neubetrachtung der Arbeiten Michail Bachtins zum Chronotopos sowie Jurij Lotmans zur Semiosphäre. Diese beiden Konzepte wurden in der von den Projektbeteiligten gemeinsam verfassten Monographie Chronotopik und Ideologie im Epos (Heidelberg 2016) auf die spezifischen Bedürfnisse der Analyse und Interpretation längerer narrativer und v.a. epischer Texte zugeschnitten und mit zentralen Konzepten der ‚Raumnarratologie‘ vermittelt. Mit diesem Instrumentarium untersucht die Monographie in fünf großen Kapiteln exemplarischer Valenz chronotopisch-semiosphärisch ausgeformte Modellierung von Konflikten in Vergils Aeneis, in Lucans Pharsalia, in Petrarcas Africa, in der Christusepik von Jacopo Sannazaro (De partu Virginis) und Marco Girolamo Vida (Christias) sowie in der homerisierenden Epik von Gian Giorgio Trissino (L’Italia liberata dai Goti). Dabei zeigt sich eine je ganz spezifische, teils (Petrarca) geradezu spannungsreich zerklüftete Ausformulierung der handlungsbestimmenden Gegensätze in Zeit und Raum, die nicht zuletzt das herkömmliche, besonders auf Bachtin zurückgehende Vorurteil widerlegt, die Gattung des Epos sei formaliter monolithisch und in ihrer Ideologie grundsätzlich monologisch angelegt. Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bildet die Untersuchung der rinascimentalen Kreuzzugsepik am Beispiel der Syrias von Torquato Tassos Zeitgenossen Bargaeus. Die Qualifikationsschrift des Projektmitarbeiters Winkler charakterisiert dieses Werk als eminent von zeitgenössischen politischen und historischen Ereignissen und daraus resultierenden ideologischen Anfordernissen geprägt: Die Syrias ist nicht nur binnenliterarisch als Auseinandersetzung mit einer gegenformatorischen, aristotelisierenden Poetik sowie mit dem großen Modell von Tassos epischer Dichtung über den Kreuzzug zur Befreiung Jerusalems von Bedeutung, sondern auch ein wichtiger Beleg für die frühneuzeitliche Transformation der Gattung Epos unter den Vorgaben politischer, teils paränetischer, teils enkomiastischer Inanspruchnahme. Eine vermeintlich ‚imperialistische‘ Ideologie, die der Epik immer wieder zugeschrieben wurde, kann sich schon beim Blick auf Lucans Pharsalia als zumindest partieller Irrtum erweisen; sie widerlegt sich schlagend durch die Untersuchung der Kolumbusepik des 18. Jahrhunderts, der sich der dritte Arbeitsschwerpunkt des Projekts (Dissertationsprojekt König) vor allem widmet. Während in der neulateinischen Kolumbusepik der ausgehenden Renaissance in der Tat wiederholt die Option genutzt wurde, im epischen Modus das transatlantische Ausgreifen Europas laudativ zu perspektivieren, tritt diese Perspektive im ideologiekritischen Zeitalter der Aufklärung zumeist in den Hintergrund. Dies kann das Projekt durch die eingehende Analyse der bislang fast ununtersuchten Kolumbusepik ab 1750 aufweisen (Du Boccage: La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde, 1756; Bourgeois: Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte 1773; Lesuire: Le Nouveau Monde, 1781; Laureau: L’Amérique découverte 1782, ergänzend Peramás: De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio, 1777). Kolumbus kann nunmehr zu einem schillernden ‚Problemhelden‘ entwickelt werden, dem teilweise sentimentalistische Züge zuwachsen, wie sie für die Empfindsamkeit als Komplement der Aufklärung typisch sind. Die Kolonisierung der Neuen Welt erscheint so nicht mehr als unidirektionale Einschreibung europäischer Wertigkeiten ein eine amerikanische Semiosphäre, sondern das chronotopisch rückgebundene Verhältnis der Ideologien wird instabil und fraglich: Dies führt bis hin zur Infragestellung der europäischen Ideologie just in der Person des nach Amerika eindringenden Kolumbus, der – anders als die ihn begleitenden ‚imperialistischen‘ Heerscharen – zu einem grübelnden Zweifler des europäischen Ausdehnungsprozesses gerät: dies aber bezeichnenderweise erst in dem Moment, da er selbst bereits in die Raumzeitlichkeit der ‚Neuen‘ Welt vorgedrungen ist und es kein Zurück in die alte Semiosphäre mehr gibt. Die epische Gattung wird somit zum Medium der kritischen Reflexion vermeintlichen Heldentums, und die epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit erweist sich am Ende dieser Epoche als ein höchst komplexes Unterfangen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Chronotopik und Ideologie im Epos (Heidelberg 2016) [GRM-Beiheft 76]
B. Huss / A. Winkler / G. König
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„Reaktualisierung und Transformation epischer Strukturelemente bei Dante und Petrarca“, Germanisch-Romanische Monatsschrift 67.3 (2017) 265-291
B. Huss
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„Lipsia incassum obsessa: Caspar von Barths episches Fragment zur Banérschen Belagerung Leipzigs im Jahr 1637“, Das Carmen heroicum 1580–1740. Zur Gattungsgeschichte von Versepos und Lehrgedicht im deutschen Kulturraum, hg. von Dirk Werle u.a. = Daphnis 46 (2018) 215-240
A. Winkler
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„Pietro Angeli da Barga’s Syrias (1582-91) and Contemporary Debates over Epic Poetry“, in: Neo-Latin and the Vernaculars. Bilingual Interactions in the Early Modern Period, hg. v. F. Schaffenrath/A. Winkler (Leiden: Brill, 2018, 212 - 231)
A. Winkler
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„‚Ce n'est qu'un asne‘. Zur Auseinandersetzung zwischen Joseph Justus Scaliger und Roberto Titi über die Loci Controversi (1583)“, Humanisten über ihre Kollegen, hg. v. K. Enenkel/Ch. Peters (Münster: LIT 2018) [Scientia Universalis 3], S. 57-87
A. Winkler