Jenseits der Funktionalität. Öffentlichkeit und technische Faszination in Deutschland zwischen 1890 und 1914
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Zu den wichtigsten bereits vorliegenden Ergebnissen des Projekts gehört das Konzept der „Public Technology“ zur Ko-Konstruktion von Technik und öffentlichen Debatten in Politik, Medien und Gesellschaft. Damit lassen sich für die Zeit der langen Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etwa die Rückwirkungen von öffentlicher Kritik nach Eisenbahnunfällen oder der Millionen-Spende nach dem Zeppelin-Unglück von Echterdingen auf die jeweiligen Technologiepfade ebenso fassen wie die dadurch ausgelösten Veränderungen der Öffentlichkeit selbst. Außerdem hat das Projekt den überragenden Stellenwert von Sicherheit in der Eisenbahntechnik für die deutsche Öffentlichkeit während des Wilhelminismus herausgearbeitet und gezeigt, dass Ausmaß und Intensität von öffentlichen Debatten nach Eisenbahnunfällen immens waren. Als Gründe dafür lassen sich die neuartige und unmittelbare Konfrontation von Bürgertum und Mittelstand mit den selbstgeschaffenen und selbst zu verantwortenden Gefahren der industriellen Moderne anführen sowie das Katastrophenpotenzial der Eisenbahntechnik. Einen wichtigen Einfluss übte dabei auch die Eigendynamik der Presse aus, die nach Eisenbahnunfällen die Berichterstattung zu dem Thema verstärkte, was wiederum auf öffentliche Aufmerksamkeit und Ängste zurückwirkte. Als Katalysatoren der Debatte wirkten schließlich noch die hohen, aber nur teilweise reinvestierten Überschüsse der Eisenbahnverwaltungen sowie die Monopolstellung der Eisenbahnen, die als Reaktion im Fall von Störungen mangels Alternativen fast zwangsläufig Widerspruch, Protest und öffentliche Debatten provozieren. Insgesamt ergab sich der Eindruck, dass die Öffentlichkeit in Deutschland auf Eisenbahnunfälle sensibler reagierte als auf Unglücke bei innovativen Technologien, bei denen man sich offenbar eher mit dem Versprechen künftiger Sicherheit zufriedengab. Die Ausgangshypothese eines „German Technological Sublime“ lässt sich vor allem mit den Befunden für die Schifffahrt und den Zeppelin belegen, die in der Öffentlichkeit nicht nur von einer vielfältigen Rhetorik der Erhabenheit begleitet wurden, sondern in Ansätzen auch die von Nye (1996) postulierten Vergemeinschaftungsprozesse auslösten. Demgegenüber blieb das öffentliche Interesse an den Rekorden für die schnellste Atlantiküberquerung neu in Dienst gestellter Dampfschiffe in Deutschland lange zweitrangig. Große Medienunternehmen wie der Ullstein Verlag nutzen die Attraktivität von Automobil und Flugzeug bei einer breiten Öffentlichkeit gezielt aus, um ihr Auflage zu steigern. So finanzierte der Verlag über die BZ am Mittag das deutsche Team beim Autorennen um die Welt im Jahr 1908 oder setzte 1911 einen hohen Preis für den Sieger des Deutschen Rundflugs aus, um ihren Lesern von diesen selbstinitiierten „Ereignissen“ ausführlich und teilweise auch exklusiv zu berichten. Bei diesen Veranstaltungen ebenso wie bei aufwendig vorbereiteten Schiffstaufen, bei den geplanten und ungeplanten Landungen des Zeppelins oder bei Eisenbahnunfällen versammelte sich meist auch vor Ort zahllose Menschen, so dass sich Versammlungsöffentlichkeit und massenmediale Öffentlichkeit eng miteinander verschränken und gegenseitig verstärkten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
(2018): Public Technology: Nuclear Energy in Europe, in: History and Technology 34, S. 187–212
Trischler, Helmuth/Bud, Robert
-
(2019): Tech-Fear. Histories of a Multifaceted Relationship. Baden- Baden (= Technikgeschichte 86, H. 3)
Gall, Alexander u.a., Hg.
-
(2020): Überwältigt vom Anblick des Kolosses. Kollektive Emotionen und die Landung des Zeppelins in München 1909, in: M. Heßler, Hg.: Technikemotionen. Paderborn, S. 154–177 (= Geschichte der technischen Kultur 9)
Gall, Alexander