Adoleszenz zwischen den Kulturen - Jugendbiographien und jugendkulturelle Szenen von Muslimen in Deutschland
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Studie liefert eine empirisch-qualitative Analyse der Biographien, Alltagskulturen und Lebenswelten junger Muslime in Deutschland. Der thematische und theoretische Fokus liegt auf der Frage nach der Struktur und den Prozessen der Jugendphase und der Jugendbiographien von Muslimen aus Migrantenfamilien, die in Deutschland geboren wurden oder seit ihrer Kindheit hier leben. Dabei werden Muslime nicht in erster Linie als religiöse Subjekte oder als sozial benachteiligte Migranten betrachtet, sondern als eine selbstverständliche soziale Gruppe der jungen Bevölkerung in Deutschland, die in ihren Bildungsprozessen, ihren Familienstrukturen, ihrer Religiosität, ihren Jugendkulturen und ihrer Sexualität beleuchtet wird. Auf der Basis der methodischen und theoretischen Konzepte der bundesdeutschen Jugendforschung zeichnet die Analyse in 17 Fallstudien und jenseits gängiger Stereotype im Rahmen einer biographieanalytischen Tyologie den spezifischen Pluralismus in den Lebensentwürfen und Lebensstilen von jungen Muslimen in Deutschland nach. Die Struktur der Typologie macht dabei insbesondere auf das Spannungsverhältnis zwischen einerseits säkularen und andererseits religiös geprägten Jugendbiographien in Auseinandersetzung mit einem ‚islamisch-sozialmoralischen Milieu’ zum einen und der westlich-säkularen Mehrheitskultur zum anderen aufmerksam. Vier zentrale Typen, die jeweils durch Varianten ausdifferenziert werden, konturieren das Feld: 1. Säkularisierter jugendbiographischer Verselbständigungsprozess; 2. Bikulturelle Identitätsproblematik; 3. Re-Islamisierung im Gefolge der Adoleszenz; 4. Islamisch-selektiv modernisierte Jugendbiographie. Die Rekonstruktion der biographischen Prozessverläufe und der familialen Lebenswelten kann dabei zum einen die sozialstrukturelle und orientierungsleitende Bedeutung religiöser Konzepte und Lebensentwürfe sowie normativer milieuspezifischer Werte und Konventionen herausarbeiten, zugleich aber auch den sozialen und kulturellen Spielraum für säkulare, pluralisierte und individualisierte Lebensentwürfe aufzeigen. Vor allem macht die Biographieanalyse auf die Prozesshaftigkeit der Auseinandersetzung junger Muslime mit ihren Familien, ihren soziokulturellen Milieus, aber auch mit den Normen, Werten und kulturellen Konventionen der bundes-deutschen Mehrheitsgesellschaft aufmerksam. Aus der Perspektive muslimischer Jugendlicher erweisen sich auch zentrale Themen ihrer persönlichen, sozialen und kulturellen Identität – z.B. familiale Lebensentwürfe, jugendkulturelle Stile, Religiosität, Kopftuch – immer als höchst wandelbare Facetten ihres Aufwachsprozesses in Deutschland. Unter jugendtheoretischer Perspektive werden denn auch die milieuspezifischen Entwicklungsaufgaben und Statuspassagen junger Muslime in Deutschland in der Strukturhypothese eines „islamisch-selektiv modernisierten Bildungsmoratoriums“ formuliert. Das bedeutet, dass die Sozialisationsprozesse und Statuspassagen des Jugendalters für eine Teilgruppe der Muslime einerseits gekennzeichnet sind von tendenziell verlängerten Bildungsphasen, von der Gestaltung individualisierter berufsbiographischer Lebensentwürfe sowie von der Teilhabe an kommerzialisierten und mediatisierten Alltagskulturen. Andererseits bleiben diese modernisierten Jugendbiographien im Kontext muslimischer Milieus in ihren adoleszenten Verselbständigungsprozessen, in der Struktur der Geschlechterbeziehungen, in der Sexualmoral sowie in der Ausbildung geschlechtlicher und familialer Beziehungsformen in hohem Maße den religiösen und tendenziell traditionellen Konventionen, Normen und Werten der muslimischen Milieus verbunden. Das islamisch-selektive Bildungsmoratorium beschreibt gewissermaßen eine um die individualisierte, pluralisierte und geschlechteregalitäre Familienbiographie halbierte Modernisierung des Jugendalters.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Opladen & Farmington Hills 2007
Wensierski, Hans-Jürgen von; Lübcke, Claudia (Hrsg.)
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Das ungläubige Leben. Adoleszenz junger Muslime zwischen expressiven Jugendkulturen und Re-Islamisierung. In: sozialer sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, 2008, H. 1, S. 73-93
Wensierski, Hans-Jürgen; Lübcke, Claudia; Schwarz, Melissa
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(2010): HipHop, Kopftuch und Familie – Jugendphase und Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland. In: Andresen, Sabine; Hunner-Kreisel, Sabine (Hg.): Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten: Aufwachsen und Bildung in deutscher und internationaler Perspektive. Wiesbaden, S. 157-176
Wensierski, Hans-Jürgen; Lübcke, Claudia
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(2010): Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland. In: Richard, Birgit; Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.): inter-cool 3.0. Jugend. Bild. Medien. Ein Kompendium zur aktuellen Jugendkulturforschung. Paderborn, S. 293-298
Lübcke, Claudia
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(2011): „In Deutschland habe ich mit meinem Kopftuch nie Probleme gehabt.“ – Zur Religiosität junger Muslime der Zweiten Generation in Deutschland. In: Allenbach, Brigit u.a. (Hrsg.): Jugend – Migration – Religion. Interdisziplinäre Perspektiven. Zürich, S. 93-114
Wensierski, Hans-Jürgen von; Lübcke, Claudia
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(2012): „Als Moslem fühlt man sich hier auch zu Hause“. Biographien und Alltagskulturen junger Muslime in Deutschland. Verlag Barbara Budrich, Opladen& Farmington Hills (434 S.). ISBN 978-3-8474-0008-0
Wensierski, Hans-Jürgen von; Lübcke, Claudia