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Migrationen im Zarenreich (1830er Jahre bis 1914)

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2013 bis 2019
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 250857066
 
Erstellungsjahr 2019

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Die aus der permanenten zentrifugalen Binnenmigration resultierende geringe Bevölkerungsdichte, die großen Reserven an Land und Rohstoffen sowie die geologischen und klimatischen Voraussetzungen förderten eine extensive Wirtschaftsweise. Technologieeinsatz oder Intensivierung in der Landwirtschaft unterblieben. Die im Vergleich zu Westeuropa deutlich kürzere Vegetationsperiode machte in weiten Teilen Russlands Viehhaltung deutlich aufwendiger und kostspieliger; denn das Vieh musste ca. zwei Monate länger im Stall stehen und dementsprechend mit Futter versorgt werden, weil es auf den Weiden noch nicht grasen konnte. Schlechte Ernährung der Tiere und geringer Viehbestand bedeuteten weniger Zugkraft und Dünger. Diese Parameter beeinträchtigten die landwirtschaftliche Tätigkeit. Aufgrund dessen geht der international renommierte St. Petersburger Historiker B. N. Mironov davon aus, dass Russland letztlich aus Kapitalmangel den Weg landwirtschaftlicher Intensivierung gar nicht habe beschreiten können und hält folglich die extensive Landbestellung in Russland bis in das 20. Jahrhundert für die optimale Variante. Der zeitgenössische linksliberale Agrartheoretiker A. A. Kaufman hingegen vertrat die These, dass gerade die Existenz eines Sicherheitsventils, nämlich in der Form freien, weitgehend unbesiedelten Landes den arbeitsaufwendigeren Übergang zu einer intensiven Landnutzung verhindert habe. Insofern sei das pereselenie nichts anderes als ein Palliativ gewesen. Die millionenfache transuralische Migration hatte ihre Schattenseiten. Die jährliche Zahl der Übersiedler war zu klein, um den ländlichen Bevölkerungsüberschuss im europäischen Russland zu lindern. Nach der Revolution von 1905 zielte das Reformprogramm von Ministerpräsident P. A. Stolypin nicht auf eine Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion ab, sondern eher auf Extensivierung, auf Flächenerweiterung im Rahmen eines „Neulandprogramms“. Die lebensweltlichen Probleme der Übersiedler aus dem europäischen Russland in ihren neuen Heimatregionen in Sibirien, Kazachstan oder im Ussurigebiet waren groß, die Hilfen des Staats und der Gesellschaft ungeachtet aller Anstrengungen nicht ausreichend, so dass die Zahl völlig mittelloser Remigranten aus den asiatischen Landesteilen nahezu mit jedem Jahr wuchs und so die sozialen Probleme verschärfte. Diese Aspekte bildeten den Kern der liberalen und sozialistischen Kritik am Übersiedlungsprogramm. Das zuvor unbekannte Wechselspiel von Migrationsregimes und individuellen Repertoires im Spannungsgeflecht unterschiedlicher Interessenlagen von Individuum, Familie, Nachbarn, zemstvo und verschiedenen institutionellen Akteuren des Staats kann als ein wichtiges Resultat des Projektes betrachtet werden. Eine zentrale Rolle spielten zum einen familiale und auf Freundschaft bzw. Bekanntschaft basierende Netzwerke sowie die mit ihnen verbundenen Informationskanäle, zum anderen neben lokalen Traditionen auch die Aspekte der Willkür und der Bestechlichkeit des Amtsbezirksvorstehers [volostnoj staršina], des Schreibers [volostnoj pisar‘] respektive des Landhauptmanns [zemskij načal’nik]. Diese Parameter waren die Basis einer bemerkenswerten gesamtgesellschaftlichen, vor allem aber bäuerlichen Mobilität. Vieles von dem, was zeitgenössische Statistiken als „Aussagen“ der Migranten festgehalten haben, war mit einem „Eigensinn“ versehen. Bereits die Zeitgenossen gingen davon aus, dass bäuerliche Übersiedler aus Furcht, keine staatlichen Beihilfen zu erhalten, ihr Eigenkapital deutlich geringer bezifferten. Andere gaben sich als chodoki [Abgesandte, Lokatoren] aus, um den vergünstigten Eisenbahntarif in Anspruch nehmen zu können, obwohl sie realiter einer Arbeitsmigration nachgingen. Es erscheint durchaus angemessen, Kontingenz, individuelle Interessen und „Motive der Massenpsychologie“ als Faktoren zu betonen, die dem historischen Prozess der Massenmigration zu Grunde lagen, zugleich aber die Rolle des Staates eher in den Hintergrund zu rücken. Zu betonen ist, dass Migration im bäuerlichen Lebenszyklus keinen Sonderfall darstellte, sondern Routine, Alltäglichkeit bzw. Normalität. Und dies galt keineswegs erst seit der Bauernbefreiung 1861; denn der otchod hatte eine viel längere, bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Im Zeitraum zwischen 1890 und dem Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die landwirtschaftliche Arbeitsmigration in die südlichen Steppegouvernements Cherson, Taurien, Ekaterinoslav, die Gebiete der Don- und Kubankosaken sowie die auf dem Ostufer der Wolga gelegenen Gouvernements Samara und Orenburg von ca. 1 auf 2,8 Mio. Menschen zu. Zugleich änderte sich das Geschlechterverhältnis, der Frauenanteil stieg zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg 1914 von 18 auf 40%. Frauen und Landmaschinen substituierten männliche Arbeitskraft. Ein Teil der Männer fand Arbeit in den Bergwerken und der Hüttenindustrie des Gouvernements Ekaterinoslav. Zugleich mutierten insbesondere infolge der Agrargesetzgebung Stolypins von 1906 die früheren Zielgebiete der Arbeitsmigration, vor allem die Gouvernements Cherson, Ekaterinoslav und Taurien, zu Ausgangsgebieten des transkontinentalen pereselenie. Dies unterstreicht nachhaltig den ausgeprägten kausalen Nexus von Modernisierung und Technisierung der Landwirtschaft, Agrarreformpolitik und bäuerlichem Migrationsverhalten. Die Veränderungen bäuerlicher Migrationsmuster zeigen, wie flexibel und zweckrational sie auf den Wandel volkswirtschaftlicher Parameter zu reagieren imstande waren. Hatten Gerüchte während der Choleraunruhen 1891/92 noch zu Angriffen von Bauern und meščane auf medizinisches Personal geführt, waren bäuerliche otchodniki bereits wenige Jahre später bereit, die kostenlos angebotene medizinische Versorgung der zemstva in den südrussischen und Wolgagouvernements zu Tausenden bereitwillig in Anspruch zu nehmen. Dies war nicht nur eine vertrauensbildende, sondern gerade auch für die Volksgesundheit eminent wichtige Maßnahme. Mit vergleichsweise geringem finanziellem Aufwand erzielten zemstvo-Mediziner bemerkenswerte Resultate.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2019) Engines of Social Change? Peasant Migration and the Transgression of Spatial, Legal and Cultural Divides in Late Imperial Russia. Journal of Borderlands Studies 34 (4) 547–570
    Häfner, Lutz Karl
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1080/08865655.2017.1402196)
  • Überwindung von Rückständigkeit? Transuralische Migration und landwirtschaftliche Entwicklung im späten Zarenreich in der Rezeption A. A. Kaufmans, in: Die Zukunft der Rückständigkeit. Festschrift für Manfred Hildermeier. Hrsg. v. David Feest und Lutz Häfner. Köln, Weimar, Wien 2016, S. 245-269
    Lutz Häfner
    (Siehe online unter https://doi.org/10.7788/9783412215934-013)
  • Engines of Social Change? Peasant Migration and the Transgression of Spatial, Legal and Cultural Divides in Late Imperial Russia, in: Journal of Borderline Studies
    Lutz Häfner
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1080/08865655.2017.1402196)
 
 

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