Einstellungen gegenüber regionalen Sprachformen in der Großstadt: Niederdeutsch in Hamburg
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ziel des Projekts war es, die Funktionen des Niederdeutschen und anderer regionalsprachlicher Formen im Alltagsleben der Großstadt zu untersuchen. Dabei war zu überprüfen, ob die regionalen Sprachformen in Hamburg als ein besonderes, positives Ortsmerkmal wahrgenommen werden und ob gegenüber der kommunikativen Funktion die sozialsymbolische Funktion an Bedeutung gewonnen hat. Das sprachliche Wissen sowie die damit verbundenen Bewertungen sollten beschrieben und das Identifikationspotenzial des Niederdeutschen erörtert werden. Die qualitativ ausgerichtete Interview-Studie zeigt, dass neben den erwartbaren stereotyp ausgeprägten Wissenskomplexen „Plattdeutsch spricht man auf dem Lande“ und „Plattdeutsch schafft eine positive Atmosphäre“ als spezifisch urbaner Wissensbestand vielfach „Niederdeutsch spricht man im Hafen“ geäußert wird. Niederdeutsch ist Teil eines traditionellen Hamburg-Konzepts, bei dem diese generalisierte Zuschreibung entgegen der aktuellen Wahrnehmung erhalten bleibt, insbesondere wenn sie biographisch verankert und emotional aufgeladen ist. Das Niederdeutsche gehört zur Konstruktion des „echten“ Hamburgers und wird von den Niederdeutsch-AkteurInnen im öffentlichen Raum als „Muttersprache“ konzeptualisiert. In den Interviews wird Niederdeutsch ikonisch eingesetzt, um das referierte Gefühl von Zugehörigkeit zur Sprechergruppe zugleich sprachlich umzusetzen. Verschiedene Abstufungen von Wissensbeständen über das Niederdeutsche können von nicht-stereotypem Erfahrungswissen, zunehmender Stereotypisierung durch Generalisierung bis hin zum nicht-hinterfragten Weltwissen verfolgt werden. Eine Verkettung von Stereotypen wird sichtbar, wenn beispielsweise Landleben, Vergangenheit und Niederdeutsch miteinander verknüpft sind. Das Wissen über die Stereotype und ihre Wirkung kann handlungsleitend wirken, indem Niederdeutsch gewählt wird, um die schwierige Kommunikationssituationen zu meistern und eine entspannte Atmosphäre herbeizuführen. Auf der anderen Seite wird auch versucht, durch gezielte sprachliche Strategien zu vermeiden, dass das Stereotyp bei den Kommunikationspartnern aufgerufen und wirksam wird. Code-Switching, das zum Ausweis der Sprachkompetenz, zur Darstellung der eigenen kommunikativen Überlegenheit sowie als Hinweis auf Informalität und Nähekonstitution genutzt wird, leistet ebenfalls einen wichtigen Beitrag zu Identitätskonstruktionen und Positionierungshandlungen. Durch entsprechende Positionierungen innerhalb der erzählten Situationen und durch den aktuellen Niederdeutschgebrauch stellen sich die Gewährspersonen als versierte Niederdeutsch-Sprecher dar und grenzen sich zugleich von nicht- bzw. wenigerkompetenten Personen (u.a. InterviewerIn) oder Gruppen ab, wodurch sie ihre kommunikative Flexibilität und Überlegenheit zum Ausdruck bringen. Die Ergebnisse der quantitativen Fragebogenuntersuchung bestätigen das Bild des Niederdeutschen als humorvolle, gemütliche und sympathische Nahsprache. Unerwartet ist das Ergebnis, dass Niederdeutsch und hamburgischer Substandard gleichartige Bewertungstendenzen zeigen, obwohl der Substandard in den Interviews teilweise negativ bewertet wurde („Barmbek basch“, „Hafen, letzte Ecke“). Das Projekt wurde in einem Film der Image-Kampagne der Universität Hamburg „Hamburgs Beste“ (Dezember 2014) und während der Nacht des Wissens der Universität Hamburg in den Jahren 2015 und 2017 vorgestellt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Sprachliche Variation in autobiographischen Interviews. Theoretische und methodische Zugänge (Sprache in der Gesellschaft, 35). Beiträge eines Projekt-Workshops. Frankfurt am Main [u.a.] 2017 (251 S.)
Ingrid Schröder und Carolin Jürgens (Hrsg.)
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Die Wahrnehmung eines regionalen Substandards durch linguistische Laien in Hamburg. In: Sprache, Literatur, Raum. Festgabe für Willy Diercks. Hrsg. von Robert Langhanke. Bielefeld 2015, S. 182–204
Carolin Jürgens: Hamburgisch, Missingsch, Barmbek Basch
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Sprachstereotype und ihre Realisierungen im Gespräch. In: Hamburgisch. Struktur, Gebrauch, Wahrnehmung der Regionalsprache im urbanen Raum. Hrsg. von Andreas Bieberstedt, Jürgen Ruge und Ingrid Schröder (Sprache in der Gesellschaft, 34). Frankfurt am Main [u.a.] 2016, S. 345–385
Carolin Jürgens/Ingrid Schröder
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Zur Bewertung von Niederdeutsch und lokalem Substandard in Hamburg. In: Linguistik online 85, 6 (2017), S. 227–255
Lara Neumann/Ingrid Schröder
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Sprachbiographie und Spracheinstellung. Niederdeutsch als Mittel der Identitätsstiftung in der Großstadt? IDS-Jahrbuch 2018: Neues vom heutigen Deutsch. S. 99–120
Schröder, Ingrid
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„Denn hebbt wi ok mal Platt schnackt.“ Codeswitching in sprachbiographischen Interviews. In: Variation – Norm(en) – Identität(en). Hrsg. von Alexandra Lenz und Albrecht Plewnia (Germanistische Sprachwissenschaft um 2020, 4). Berlin/Boston 2018, S. 41–62
Schröder, Ingrid/Neumann, Lara