Die albanisch-mazedonische Staatsgrenze und ihr sprachlicher Einfluss auf die Region von Dibra/Debar
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Grenzraumforschung erlebt zurzeit eine fächerübergreifende Hochkonjunktur, wie sie in der Planungsphase des Projekts 2001 noch nicht absehbar war. Das Projekt hat seinen Ausgangspunkt in der Soziolinguistik, ging aber von dort aus auch in die rein soziologische Forschung mit Oscar Jáquez Martínez und in die Linguistik mit Klaus Mattheier und Peter Auer über. Die Forschungsfrage orientiert sich an Methoden des Grenzraumforschers Curt Woolhiser und mit der zentralen Rolle von Binnen- und Auslandsmigration auf die Migrationslinguistik im Sinne von Thomas Krefeld. Die Herausforderungen der Linguistik im Umgang mit Grenzräumen wurden durch Methoden der Raumlinguistik aufgefangen. Die Feldforschung, auf der das Projekt basiert, konnte durch innovative und kreative Durchführungsmethoden bewältigt werden. Dibra wird seit 2012 – dem 100-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung Albaniens, die ca. 40% der Albanischsprecher außerhalb des Staatsterritoriums beließ – als das "albanische Berlin" apostrophiert, ohne diese Metapher wissenschaftlich zu belegen. Dibra gehört seit 1912 zu Serbien bzw. nach 1918 zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dann später zu Jugoslawien, heute zur Republik Nordmazedonien und erlebt so eine massive sprachliche Veränderung. Die Ergebnisse des Projekts zeigen, dass der Einfluss der Staatsgrenze auf Dibra vielschichtig und allumfassend ist und über die sprachliche Ebene hinausgeht. Es zeigt aber auch, dass die Grenze größtenteils die albanischsprachige Bevölkerung traf, anders als aktuelle bzw. zeitgenössische Volkszählungen zeigen. Die Staatsgrenze seit 1912 hat zwei regionale Einheiten mittels einer nationalstaatlichen Logik durchtrennt. Territoriale Antagonismen zwischen Serbien, Montenegro und Albanien um die Ostgrenzen des albanischen Staats insbesondere im Raum Dibra haben für die Lokalbevölkerung zu extremen Gewalterfahrungen geführt. Neben den sprachlich-dialektalen Divergenzen hat sie die Auflösung der regionalen Einheit von urbanem Zentrum und Hinterland in Form der Bergwelt westlich und der Talwelt östlich des Flusses Drin herbeigeführt. Dies löste insbesondere die Identität der osmanischen Städter in Dibra auf, die sich durch einen albanischen Dialekt identifizierten. Die Stadt Dibra wurde von einer osmanischen Metropole zu einer bedeutungslosen Provinz- und Grenzstadt Jugoslawiens. Sprachlich löste die Grenzziehung von 1912 die bestehenden Dialektkontinua auf, und zwar das Dialektareal der Bergregion, das sich insbesondere im 19. Jh. durch ökonomische Migrationen (Bergflucht) bis vor die Stadt erstreckte. Dies löste aber auch die stabile sprachliche Überdachung des Osmanischen auf, das zwar kaum Zugang in familiäre low varieties gefunden hatte, aber durch den Dezentralismus des osmanischen Staates nur lexikalische Top-down-Transfers auf die regionalen Non-Standardvarietäten verursachte. Die postosmanischen Nachfolgestaaten setzten ihre normierten Nationalsprachen notfalls mit Repressionen durch. Seit dieser doppelten Divergenz ist Dibras Sprachkontinuum defizitär. Denn die Staatsgrenze entschied darüber, welche Erfahrungen die Dibraner mit Mehrsprachlichkeit, Sprachkontakt, Schulbildung und letztlich auch mit dem Standardalbanischen gemacht haben. Somit besitzt die Fallstudie Dibra sehr hohen paradigmatischen Wert für die albanische Plurizentrik zwischen gegischem Nonstandard und toskischem Standard. Die Öffnung der Grenze im Jahre 1990 hat zu einer gewissen Re- bzw. Advergenz geführt, die jedoch dem subkulturellen Potenzial adoleszenter Identitäten widerspricht und daher nicht als nachhaltig einzuschätzen ist. Auch der nationalistische Diskurs postulierter albanischer Einheit könnte sich in diesem Sinne durchaus als kontraproduktiv erweisen.