Gefühlslagen der Exklusion
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Gefühlslagen in den unteren Gesellschaftsschichten sind heute deutlich anders eingefärbt als zu fordistischen Zeiten, als Arbeiterkultur und Arbeiterbewegung noch einen sinnhaften und würdeversprechenden Bedeutungsrahmen für einen unterbürgerlichen Status geliefert haben. Die Frage stellte sich nun, wie sich die Emotionen und Affekte von Schülern mit geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt gegenwärtig auf neue Weisen strukturieren. Das Forschungsprojekt zielte folglich darauf ab, Emotionen und Affekte mit sozialstrukturellen Machtverhältnissen in Beziehung zu setzen. In meiner abschließenden Monografie beschreibe ich die Gefühlslagen von Zehntklässlern in Berlin-Neukölln anhand von fünf für ihre Schule besonders charakteristischen Gefühlskomplexen: dem Wechselspiel von Langeweile und Kurzweile, populärkulturell überformten Formen der Selbstermächtigung, als ,,hässlich“ geltenden Gefühlen der Unzulänglichkeit, anhand antagonistischer Affekte wie Wut und Aggressivität, sowie auf die Zukunft ausgerichteten Ängsten und Hoffnungen. Diese Emotionsbündel stehen für jeweils unterschiedliche Weisen, in denen Ausgrenzung emotional erfahren und verarbeitet wird. Meine Forschung liefert anschauliche Befunde für die tiefgreifende Wirkung neoliberaler Vergesellschaftung. Unterschiedliche Facetten neoliberaler Transformationen wurden hervorgehoben, etwa eine marktorientierte Bildungspolitik, eine individualistische Verantworttungszuschreibung gegenüber Bildungsverlierern oder ein Verständnis des Sozialen als Wettkampf. Die Schüler nahmen negative Fremdbilder in ihre Selbstbeschreibungen auf und reproduzierten die Verachtung, die ihnen selbst entgegengebracht wurde, im schulinternen Umgang mit Schwächeren. Sie stützten damit ungewollt die Umstände ihrer eigenen Inferiorisierung, sie propagierten ein individualistisches Leistungsverständnis und ein konformistisches Modell des „guten Lebens“, teilweise spielten sie die Wirkungen sozialer Ungleichheiten sogar selbst herunter. Selbst die von den Jugendlichen präferierten Formen der Selbstaufwertung und des emotionalen Aufbegehrens waren meist noch den Leitlinien neoliberaler Subjektivität verpflichtet. Doch deuteten sich gleichzeitig Indizien für eine Erosion des neoliberalen Herrschaftsregimes an. Die Schüler ließen sich kaum noch vom schulischen Lehrpersonal steuern, sie verhielten sich eigensinnig: sie mobbten sich untereinander, doch solidarisierten sie sich gegen rassistisch auftretende Lehrer, sie unterliefen das schulische Strafregime, verweigerten sich aber auch gegen Versuche der Politisierung von links. Politische Artikulationen ergaben sich eher auf der Ebene des Alltäglichen als des Programmatischen, in situierten Praktiken der Kritik, des Aufbegehrens und der Verweigerung. Die beschriebenen emotionalen Erfahrungen fügten sich folglich nicht reibungslos den gesellschaftlichen Ordnungsvorgaben, sie entstanden vielfach im Konflikt mit ihnen und ergaben sich aus widerständigen Haltungen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
Ein Ort der Verachtung. Die Hauptschule als institutionalisierte Form von Klassismus, In: Kurswechsel 29(4), 2015, S. 53-57
Stefan Wellgraf
-
Die Macht der Ambivalenz. Humoristische Aushandlungen von Zugehörigkeit in der Hauptschule, In: Halyna Leontiy (Hg.): (Un)Komische Wirklichkeiten, Komik und Satire in (Post-)Migrations- und Kulturkontexten, Wiesbaden: Springer VS, 2016, S. 187-202
Stefan Wellgraf
-
Der Boxerstil. Zur Genese und Ästhetik agonaler Stilisierungen, in: Sebastian Schinkel / Ina Herrmann (Hg,): Ästhetiken in Kindheit und Jugend. Sozialisation im Spannungsfeld von Kreativität, Konsum und Distinktion, Bielefeld: Transcript, 2017, S. 199-216
Stefan Wellgraf
-
„Blödeln“. Provozierende Adaptionen des Gangnam Style und Harlem Shake von Berliner Hauptschülern, ln: Ute Holfelder / Klaus Schönberger (Hg.): Bewegtbilder und Alltagskultur(en), Köln: Halem, 2017, S. 177-190
Stefan Wellgraf
-
„Parallelgesellschaften“. Sozialbeziehungen zwischen Hauptschülerlnnen und GymnasiastInnen, In: G. Koch / B. J. Warneken (Hg.): Sozialbeziehungen zwischen Arm und Reich, ln: Hamburger Journal für Kulturanthropologie 6, 2017, S. 47-61
Stefan Wellgraf
-
Hauptschule. Atmospheres of Boredom and Ruination, In: Sara Asu Schroer/ Susanne Schmitt (Hg.): Exploring Atmospheres Ethnographically, London/New York: Routledge, 2018, S. 12-29
Stefan Wellgraf
-
Schule der Gefühle. Zur emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit in neoliberalen Zeiten, Bielefeld: Transcript, 2018 (444 Seiten)
Dannowski, A., Micallef, A., Huhn, K., Krastel, S.
-
„Machos“ and „Top Girls“: Photographic Self-Images of Berlin Hauptschüler, In: Jens Ruchatz / Sabine Wirth / Julia Eckel (Hg.): Exploring the Selfie. Historical, Theoretical and Analytical Approaches to Digital SelfPhotography, London: Palgrave/MacMillan, 2018, S. 351-377
Stefan Wellgraf