Beredte Tiere. Narrative Konfigurationen von Mensch-Tier-Beziehungen in der deutschsprachigen Tierliteratur des 14.-16. Jahrhunderts
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Tiere in Fabel und Tierepik spiegeln menschliche Eigenschaften, doch hat sich im Blick auf die Kultur- und Faszinationsgeschichte einzelner Spezies sowie auf die historischen Prozesse ihrer Auslegung seit der Antike gezeigt, dass ihnen häufig auch reflexive Qualitäten in Bezug auf ihr eigenes Projektionspotential zugeschrieben werden: Der Wolf, stets als Eindringling in die menschliche Sphäre imaginiert, ist als Beobachter des Menschen prädestiniert, der Fuchs wird bereits in der Antike als listklug dargestellt und in der mittelalterlichen Tierepik zunehmend in der Lage gezeigt, sein Umwelt zu manipulieren. Am traditionell als scheu und unzähmbar geltenden Einhorn lassen sich spezifische Begehrensstrukturen ermitteln, die sich insbesondere für die höfische Kultur des Mittelalters als prägend erweisen und von erstaunlich langer Dauer sind. Hier finden sich Hybridisierungen mit dem Hirsch, der als Christussymbol und Objekt adligen Jagdbegehrens in vergleichbarer Weise Übertragungen zwischen religiösen und weltlichen Semantiken evoziert. Diese unterschiedlichen Reflexionsmöglichkeiten ‚beredter‘ Tiere (die nicht notwendigerweise eloquent sein müssen), hängen mit den bereits in der äsopischen Fabel entwickelten Auslegungsverfahren zusammen, mittels derer Tieren bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, die fixierte ‚Sinnbündelungen‘ bilden, zugleich aber vielfältig auslegbar sind. Solche Tier-Topoi oder Theriotopoi sind anhaltend produktiv, denn sie sind zum einen Speicher für kulturelles Tierwissen und können zum anderen in der Ausdeutung oder narrativen Entfaltung selbst wiederum Bedeutung generieren. In komplexen Sinnschichtungen organisieren Theriotopoi auch interspezifische Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten, Raumanordnungen und Erzählverfahren. Das Projekt einer literarischen Epistemologie der mittelalterlichen Tiererzählung ermöglicht somit einen neuen Blick auf Texte, in denen Menschen und Tiere auf verschiedenen Ebenen interagieren, miteinander kommunizieren, übereinander sprechen und voneinander erzählen. In den mittelalterlichen Tierepen werden solche Theriotopiken in Figuren realisiert, die zum einen tierliche Eigenschaften besitzen, zum anderen namentlich benannt sind und eine bestimmte Typik besitzen wie der listige Fuchs Reinhart/Reynke oder der gefräßige Wolf Isengrim. Sie bewegen sich in epischen Handlungszusammenhängen, sind aber zugleich in der Deutungstradition der Tierfabel im Hinblick auf allgemeine Lehren und menschliche Verhaltensweisen hin auslegbar. Charakteristisch insbesondere für die frühneuzeitliche Tierepik ist die Ordnung des Erzählten durch die Akkumulation und kunstvolle Verknüpfung traditioneller Fabelsujets, die sich des Potentials beredter Tiere auf unterschiedlichen Ebenen bedienen. Dabei ist deutlich geworden, wie vielfältig Fabeln nicht nur in den Möglichkeiten der Auslegung, sondern insbesondere auch in Bezug auf die Inszenierung ‚beredter‘ und erzählender Tiere einsetzbar sind. Diese sind in der Lage, alltagsweltliche Problemstellungen zu veranschaulichen, wie es schon in der äsopischen Fabel begegnet. Diese Funktion wird wiederum in bestimmten Erzählsituationen ausgestellt, wenn die Tiere, indem sie selbst Fabeln (von sich selbst) erzählen, zugleich auch ihren poetologischen Status artikulieren und damit neue Möglichkeiten der Sinnbildung eröffnen. Dabei werden nicht nur menschliche Redepositionen und Deutungsformen artikuliert, sondern es kann eine spezifische Perspektive auf den Menschen eingenommen werden, welche die Tiere zu Ordnungsinstanzen erhebt, wenn sie nun umgekehrt das Verhalten der Menschen evaluieren und zum Gegenstand allgemeiner Handlungssätze machen. In den Fabelsammlungen und Tierepen des späten 15. und 16. Jahrhunderts (Reynke de Vos, Waldis’ Esopus, Fischarts Flöh Hatz, Rollenhagens Froschmeuseler, Fuchs’ Mückenkrieg) hat sich das ‚beredte Tier‘ nicht nur als reflexiv in Bezug auf seine Eigenschaften sowie die damit in Verbindung stehenden Raumkonfigurationen und Auslegungsverfahren erwiesen, sondern auch zunehmend als Medium poetologischer Reflexion. In Zusammenhang damit lässt sich ein immer kompetenterer Umgang mit den erzählerischen Möglichkeiten ‚beredter Tiere‘ beschreiben. Die Frage nach Historizität und Produktivität von Theriotopoi hat sich somit insbesondere für die Analyse von Erzählformen, mittels derer Tiere anderen Tieren von Tieren (und Menschen) erzählen, als weiterführend erwiesen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2020) Füchsische Poetologie. Zur Spiegelfiktion im Reynke de Vos (1498). Poet. (Poetica) 50 (3-4) 193–218
Rieger, Hannah
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(2020) Theriotopik: Vormoderne Mensch-Tier-Relationen und die Epistemologie der Tiererzählung. Poet. (Poetica) 50 (3-4) 219–237
Weitbrecht, Julia
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(2015): „Lupus in fabula. Mensch-Wolf-Relationen und die mittelalterliche Tierfabel“, in: Tier im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebewesen, hg. v. Hans-Jürgen Scheuer/Ulrike Vedder, Bern u a. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik N. F. 29), S. 23-35
Julia Weitbrecht
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(2016): „Feld, Wald und Wiese. Kontaktzonen und Interaktionsräume von Mensch und Tier in der Fabel und im Reinhart Fuchs“, in: Reflexionen des Politischen in der europäischen Tierepik, hg. v. Michael Waltenberger/Jan Glück/ Kathrin Lukaschek, Berlin/Boston, S. 44-59
Julia Weitbrecht
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(2017): „Die Niederlage eines Mückenkönigs. Oder: Mit Tieren vom Untergang erzählen“, in: Tierstudien 12, S. 59–70
Renke Kruse
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(2018): „‚Thou Hast Heard Me from the Horns of the Unicorns‘: The Biblical Unicorn in Late Medieval Religious Interpretation“, in: Interfaces: A Journal of Medieval European Literature 5, S. 49-64
Julia Weitbrecht
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(2019): „Die Kunst der ‚schönen Worte‘. Füchsische Rede- und Erzählstrategien im Reynke de Vos (1498)“, Diss. masch. Kiel
Hannah Rieger
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(2019): „Humanimale Heilsgemeinschaften. Intersektionale Perspektiven auf Mensch-Tier-Beziehungen in der Wüstenväterliteratur“, in: Gender Studies – Queer Studies – Intersektionalitätsforschung. Eine Zwischenbilanz aus mediävistischer Perspektive, hg. Ingrid Bennewitz/Jutta Eming/Johannes Traulsen, Göttingen (Berliner Mediävistik- und Frühneuzeitforschung 25), S. 417-437
Julia Weitbrecht
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(2019): „Krieg der Spezies. Funktionalisierungen von Tierdarstellungen im Froschmeuseler (1595) von Georg Rollenhagen und im Mückenkrieg (1600) von Hans Christoph Fuchs“, Diss. masch. Kiel
Renke Kruse
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(2020): On Courtly Discipline: Animal Rituals and Noble Selffashioning in Medieval Courtly Literature“, in: Animals and Courts. Europe, c. 1200-1800, hg. v. Mark Hengerer/Nasir Weber, Berlin/Boston, S. 95-109
Julia Weitbrecht
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(2021): „Animalische Lizenzen. Zur Artikulation und Reflexion von Ordnung in Fischarts Flöh Hatz Weiber Tratz (21577) und Rollenhagens Froschmeuseler (1595)“, erscheint in: Erzählte Ordnung – Ordnung des Erzählens, hg. v. Daniela Fuhrmann/Pia Selmayr, S.
Julia Weitbrecht