Se Non Ora Quando? Formierungsprozesse, Diskurse und Praxen einer neuen italienischen Frauenbewegung
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Ethnographie untersucht die 2011 in Italien im Zuge der Proteste gegen den damaligen Ministerpräsidenten Berlusconi entstandene, zeitweise mit über 150 lokalen Gruppen aktive feministische Bewegung Se Non Ora Quando? (wenn nicht jetzt, wann dann; abgekürzt: SNOQ) mittels teilnehmender Beobachtungen an Aktionen und lokalen wie nationalen Treffen, biographisch-themenzentrierter Interviews mit Aktivist*innen und einer Diskursanalyse zentraler Dokumente. Der Fokus der Untersuchung lag auf dem Zusammenhang zwischen Diskursen und Medienpraktiken. SNOQ unterscheidet sich von anderen zeitgenössischen Bewegungen durch eine dauerhafte kollektive Identität und konkrete politische Forderungen, die aktuelle Probleme der italienischen Gesellschaft wiederspiegeln (mangelhafte Repräsentation von Frauen in der Politik, ein sexistisches Frauenbild in den Medien, ökonomische Benachteiligung und geschlechtsbasierte Gewalt). Diese werden von den Aktivistinnen vor allem als Folge eines nach wie vor hegemonialen patriarchalen Dispositivs interpretiert. Nach einer Phase, in der die Initiatorinnen der Proteste eine Führungsrolle einnahmen, kam es zu Konflikten, die zur Spaltung der Bewegung und zu einem starken Rückgang ihrer Aktivitäten führten. Dies ist auf Differenzen zwischen jenen Aktivistinnen zurückzuführen, die die Einstellungen der Feministinnen der 70er Jahre verfochten, und denjenigen, die aus den als solchen empfundenen Fehlern der Frauenbewegung der 70er Jahre lernen wollten. Die Bewegung scheiterte am Widerspruch zwischen dem von einem Teil der Mitglieder propagierten Grundsatz der Transversalität – dem Bestreben, alle Frauen auf der Basis der Kategorie Geschlecht ungeachtet politischer und weltanschaulicher Hintergründe miteinzubeziehen – und der von anderen vertretenen Auffassung einer notwendigen Kongruenz spezifischer politischer Anschauungen und eines feministischen Bewusstseins. Zudem wurde mit SNOQ erstmals versucht, eine italienische Frauenbewegung landesweit zu organisieren und auf der nationalen Ebene hierarchische Strukturen zu implementieren. Dies widersprach der Norm der Horizontalität, die von der Frauenbewegung der 70er Jahre übernommen wurde. Andererseits bildeten sich in den lokalen Gruppen teils ungeplant und entgegen den Intentionen der Aktivistinnen informelle Hierarchien heraus, die aufgrund der Existenz persönlicher Vertrauensverhältnisse akzeptiert waren. Bei SNOQ führte der starke Einfluss der Feministinnen der 70er Jahre zu interaktionsbezogenen Werten, die sich ungeplant und teilweise unbewusst durch Wiederholung und Habitualisierung in die Praktiken der Aktivistinnen einschrieben und sich in hohem Maße auf die Kommunikations- und Protestformen der Bewegung auswirkten und der Verwendung digitaler Medien einschränkten. Die Herstellung persönlicher Beziehungen untereinander war für die Aktivistinnen zentral, Face-to-face-Kommunikation sowie einstimmige Entscheidungen, die aus der physischen Kopräsenz emergieren, wurden bevorzugt. Der Schwerpunkt des Aktivismus lag daher auch auf Protestmodi, die einen direkten Austausch mit der Bevölkerung beinhalteten. Die Untersuchung zeigt die starke Wirkmächtigkeit von Diskursen, in die Infrastrukturen und deren Nutzung eingebettet sind. Wie anhand der Hierarchisierung von Zugängen zu Online-Medien entsprechend der Offline-Emergenz von Hierarchien und der Segregation des Mediengebrauchs im Kontext bewegungsinterner Konflikte deutlich wird, legten nicht die Eigenschaften der Mediainfrastrukturen die Grenzen der Möglichkeiten politischen Austauschs fest, sondern spezifische soziale Faktoren, Interaktionstraditionen und Werthaltungen bestimmten die Aneignung der neuen Medien und ihren Gebrauch. Anhand des Beispiels von SNOQ erweist sich die Valenz des Konzeptes der Sozialen Automatismen (Bublitz et al., 2010) als Analyseinstrument für die Dynamiken zwischen Akteur*innen, bei denen die Wiederholung von Praktiken auch hinter dem Rücken der Akteur*innen und teilweise entgegen ihrer Intentionen zur Bahnung und Einschleifung von Verhalten, zur Habitualisierung und letztlich zur Verfestigung von Beziehungen und zur Naturalisierung kultureller Muster führt. Nicht die Medienpraktiken konfigurieren bei SNOQ die Diskurse, sondern es verhält sich umgekehrt: Diskurse und deren automatistische Reaktualisierung determinieren Wahrnehmungsmodi, kognitive Horizonte und die Grenzen von Handlungsräumen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Una decisione condivisa da tutte? Soziale und diskursive Dynamiken am Beispiel der italienischen Frauenbewegung „Se non ora quando“. In: Norbert Otto Eke/Lioba Foit/Timo Kaerlein/Jörn Künsemöller (Hg.): Logiken strukturbildender Prozesse: Automatismen. Bielefeld: transcript 2014, S. 59–80
Marion Näser-Lather
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Die reale Begegnung. Kommunikationsmodi und Infrastrukturnutzung in der Frauenbewegung Se Non Ora Quando. In: Kommunikation@Gesellschaft 16, 2015
Marion Näser-Lather
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L´Amavo Più Della Sua Vita: I Loved Her More Than Her Life. In: Begonya Enguix/Jordi Roca (Hg.): Rethinking Romantic Love. Discussions, Imaginaries and Practices. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2015, S. 161-190
Marion Näser-Lather
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Augmented Activism. Interaktionsmodi einer Frauenbewegung. In: Hamburger Journal für Kulturanthropologie Nr. 5 (2016)
Marion Näser-Lather
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„Es ist die Leidenschaft, die uns vereint“. Emotionale Stile und Interaktionsprozesse in der Frauenbewegung Se Non Ora Quando? In: Karl Braun/Claus-Marco Dieterich/Thomas Hengartner/Bernhard Tschofen (Hg.): Kulturen der Sinne. Zugänge zur Sensualität der sozialen Welt. Würzburg: Königshausen&Neumann 2017, S. 266–277
Marion Näser-Lather