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Volkskunde in der Metropole. Zur Entstehung eines volkskundlichen Wissensmilieus und zur Produktion kultureller Wissensformate in Berlin.

Fachliche Zuordnung Ethnologie und Europäische Ethnologie
Förderung Förderung von 2006 bis 2011
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 26272775
 
Erstellungsjahr 2009

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In der Wissens(chafts)forschung sind, vor allem in der Auseinandersetzung mit Globalisierungsdebatten und einer vielfach konstatierten „Renaissance des Regionalen“, verschiedentlich auch mögliche Raumbezüge von Wissen thematisiert worden. Mit Blick auf solche Einbindungen wissenschaftlicher Wissensproduktion hat sich das Projekt in einer wissensgeschichtlichen Perspektive mit den komplexen Wechselbeziehungen und Wirkungsverhältnissen von (regional umrissenem) Raum, Wissen und sozialen Akteuren beschäftigt. Dies am Beispiel der Volkskunde zu tun war vor allem auch deshalb nahe liegend, weil für volkskundliches Wissen eine starke lokale Einbindung mit regionaler Perspektive stets charakteristisch war. Es besaß in aller Regel spezifische regionale Wissensanteile, landschaftliche Bezüge und regionale Träger, die nicht beliebig transformierbar und generalisierbar waren und sind. Berlin als exemplarischer Ort volkskundlicher Wissensproduktion war dabei auch deshalb von besonderem historischen Interesse, weil hier einerseits die Institutionalisierung wie Akademisierung der Volkskunde längst vor 1900 in Gang gesetzt wurde, andererseits aber die Großstadt selbst als Forschungsfeld erst nach 1945 „entdeckt“ wurde. Das Projekt hat sich diesem Thema mit einem zeitlichen Schwerpunkt um 1900 in zwei Fallstudien genähert: aus der Perspektive einer Institution – der „Brandenburgia“, Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin – und aus der Perspektive verschiedener Volkskunstausstellungen in Berlin. Analysiert wurden vor allem Druckerzeugnisse wie Vereinszeitschriften und Tagespresse sowie verschiedene Archivmaterialien. Mit dem Begriff des „Wissensmilieus“ wurden Kommunikationszusammenhänge und Wissenskulturen konzeptuell gefasst, die sich um 1900 mit Blick auf „Volkskunde“ verdichteten und zunehmend institutionalisierten und die sowohl wissenschaftlich wie nicht wissenschaftlich arbeitende Akteure umfassten. In ihrer Berliner Spezifik zeichneten sich diese Kommunikationsstrukturen vor allem durch stärkere soziale Heterogenität aus als bisher angenommen, durch thematische Offenheit und Integrationsfähigkeit sowie durch eine relative Personengebundenheit volkskundlichen Wissens. Feststellbar sind damit unterschiedliche Grade der öffentlichen Teilnahme an Wissensproduktion und Wissenstransfer. Die Volkskunstausstellungen wurden mit dem Begriff des „Wissensformats“ als Ordnungen spezifischer Wissensbestände analysiert, die etwa die sinnlich-ästhetischen Dimensionen volkskundlichen Wissens zur Geltung brachten und damit die öffentliche Wahrnehmung „von Volkskunde“ nachhaltig prägten. Die Großstadt als Ausstellungskontext strukturierte dabei die öffentliche Rezeption der Objekte ebenso mit wie der Veranstaltungsort, etwa das Warenhaus Wertheim (1909 und 1932). Mit Blick auf ein sozial heterogenes Publikum und auf eine breite Rezeption in der Berliner und der überregionalen Presse waren sie dabei ein wichtiges Transferformat mit hohem Aufmerksamkeitswert in Berlin. Diese als „Wissenstransfer“ untersuchten Austauschverhältnisse zwischen Wissenschaft und (Stadt-)Öffentlichkeit erwiesen sich vor allem dort als besonders effektiv, wo nicht wissenschaftlich Akteure maßgeblich an der Formatierung volkskundlichen Wissens beteiligt waren. Diese Akteure stellten für die sich herausbildende Wissenschaft Volkskunde um 1900 wichtige Verbündete dar, weil sie den Transfer volkskundlichen Wissens in andere gesellschaftliche, vor allem auch großbürgerliche Bereiche stützten und gestalteten und weil sie volkskundliches Wissen für eine breitere Öffentlichkeit ebenso wie für neue gesellschaftliche Gruppen plausibel und anschlussfähig machten. Mit Blick auf gesellschaftliche und/oder politische Verwertungsinteressen lassen sich hier zudem signifikante Schnittstellen des Wissensmilieus mit anderen gesellschaftlichen Bereichen vermuten. Die drei hier vertiefend erprobten und wissensgeschichtlich weiterentwickelten Begriffe – Wissenstransfer, Wissensformat, Wissensmilieu – bilden zugleich einen Beitrag zur Weiterentwicklung der kultur- und sozialanthropologisch geprägten Wissens(chafts)forschung.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • DFG-Forschungsverbund: zum Start des DFG-Forschungsverbundes „Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert“, in: dgv-Informationen H. 4, 2006, S. 8-10

  • Die Erfindung der Region. Fleißige Schwaben und bayerische Lederhosen: Die Europäische Ethnologie untersucht, wie die Wissenschaft regionale Traditionen erhält, in: forschung Spezial Geisteswissenschaften. Das Magazin der deutschen Forschungsgemeinschaft 2007, S. 41-43

  • Feldforschung in der Mark Brandenburg. Volkskundliche Wissensproduktion in en 1930er Jahren in Berlin, in: Ina Dietzsch/ Wolfgang Kaschuba/ Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.): Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln u.a. 2009, S.112-130
    Leonore Scholze-Irrlitz
  • Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln u.a. 2009
    Ina Dietzsch/ Wolfgang Kaschuba/ Leonore Scholze-Irrlitz
  • Sozialkitt, Beheimatung und Mitmach-Wissen. Überlegung zur Verwendbarkeit volkskundlichen Wissens im Kontext der Preußischen Schulreformen 1924/25, in: Ina Dietzsch/ Wolfgang Kaschuba/ Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.): Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln u.a. 2009, S.87-111
    Sabine Imeri
  • Städtische Arenen volkskundlicher Wissensarbeit. Die Internationale Volkskunstausstellung 1909 im Berliner Warenhaus Wertheim, in: Ina Dietzsch/ Wolfgang Kaschuba/ Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.): Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln u.a. 2009, S. 54-86
    Franka Schneider
 
 

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