Naturwissenschaftsbezogenes Textverständnis als Interaktion von Personen- und Textmerkmalen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Aktuellen Theorien zum Textverständnis modellieren eine Interaktion von Personen- und Textmerkmalen. Auf Personenseite gibt es dabei empirische Belege für den Einfluss des Vorwissens, schlussfolgerndes Denken, Lesestrategien sowie motivationaler Aspekte. Hinsichtlich expositorischer Texte werden typische Gestaltungsmerkmale, bspw. die hohe Dichte an Termini, die Anonymisierung und Objektivierung, ein verstärktes Präsens, sowie Passivund Reflexivkonstruktionen, als schwierigkeitserzeugende Merkmale betrachtet. In dem vorliegenden Projekt wurden mehrere dieser Aspekte unter dem Blick auf die Textkohärenz zusammengefasst betrachtet, insb. im Sinne einer lokalen bzw. globalen Textkohäsion. Die oben aufgeführten Einflüsse von Personenmerkmalen und Textmerkmalen auf das Textverständnis lassen die Vermutung zu, dass beide gemeinsam Einfluss auf das Textverständnis nehmen und es ggf. zu Interaktionseffekten kommt. Es finden sich jedoch nur wenige Arbeiten, die sowohl Textmerkmale systematisch variieren, gleichzeitig Personenmerkmale ausführlich erfassen und dann die Interaktion analysieren. Vor diesem Hintergrund wurde untersucht, inwiefern unterschiedliche Domänen (Physik und Chemie) sowie die lokale und globale Kohäsion das Textverständnis expositorischer Texte in der Sek I beeinflussen und welchen Einfluss die o.g. personenbezogenen Merkmale dabei ausüben. Zudem sollten insbesondere auch Interaktionseffekte zwischen Personen- und Textmerkmalen betrachtet werden. Für die Variation der Texte, ausgehend von curricular validen Schulbuchtexten, hinsichtlich der lokalen und globalen Textkohäsion wurde an aktuelle Diskussionen in der Inklusionsforschung angeknüpft und die Ansätze der Leichten Sprache bzw. der Einfachen Sprache aufgegriffen. Zu vier Inhaltsbereichen wurden entsprechend Texte und inhalts- bzw. textbezogene Tests entwickelt. Weitere Personenmerkmale wurden mittels etablierter Instrumente erhoben. An drei konsekutiven Erhebungen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen nahmen insgesamt 917 Neuntklässlerinnen und Neuntklässler unterschiedlicher Schulformen teil. Übergreifend über alle drei Teilstudien zeigte kein Haupteffekt der sprachlichen Gestaltung der Texte. Texte in Leichter bzw. Einfacher Sprache waren für die Schülerinnen und Schüler demnach nicht einfacher zu verstehen. Diese Befunde stellen den Mehrwehrt dieser Textgestaltungsmaßnahmen hinsichtlich des Verständnisses expositorischer Texte in Frage. Weiterführende Analysen zeigten die erwarteten direkten Effekte des Vorwissens, des Verständnisses narrativer Texte, des allgemeinen Wortschatzes sowie des Schlussfolgernden Denkens auf das Textverständnis, und einen indirekten Effekt des Wortschatzes auf das Textverständnis über die Lesestrategien. Mit Blick auf die erwarteten Interaktionseffekte zwischen Personen- und Textmerkmalen zeigte sich zwar ein bedeutsamer Einfluss des Vorwissens, es stellten sich aber je nach Inhaltsbereich keine oder nur sehr kleine Effekte der Schulform und kein Interaktionseffekt der sprachlichen Gestaltung mit dem Vorwissen ein. Entsprechend konnten auch keine differenziellen Effekte der Textgestaltungsmaßnahmen für unterschiedliche Probandengruppen nachgewiesen werden. Im Vergleich der Zusammenhänge zwischen narrativen und expositorischen Texten zeigte sich eine hohe Vergleichbarkeit der Pfade. Demnach scheinen beiden Textsorten vergleichbare Prozesse hinsichtlich des Textverständnisses zugrunde zu liegen. Die vorgenommenen Veränderungen der schriftlich verbalen Kohäsion führten jedoch zu keinen bedeutsamen Veränderungen des Textverständnisses. Entsprechend stellt sich die Frage, ob an dieser Stelle fachdidaktische Eingriffe im Sinne von Aufgaben oder einer expliziteren Aktivierung des Vorwissens stärkere Auswirkungen mit sich bringen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2019) Kann man Sachtexte vereinfachen? – Ergebnisse einer Generalisierungsstudie zum Textverständnis. ZfDN (Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften) 25 (1) 273–287
Härtig, Hendrik; Fraser, Nicole; Bernholt, Sascha; Retelsdorf, Jan
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(2015). Fachsprache oder Sprache im Fach – Stand der Forschung und Forschungsperspektiven zur Rolle der Sprachen im naturwissenschaftlichen Unterricht. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften (ZfDN) Jg. 21. Nr. 1, S. 55 – 67
Härtig, H.; Bernholt, S.; Retelsdorf, J.
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Die Rolle der Termini beim Lernen mit Physikschulbüchern. In: Fachunterricht und Sprache in schulischen Lehr-/Lernprozessen. Ahrenholz, Bernt; Hövelbrinks, Britta; Schmellentin, Claudia (Hrsg.), 2017, S. 55 – 72. ISBN: 978-3-8233-8010-8
Härtig, H.; Kohnen, N.
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Leichte Sprache im Physikunterricht. In: „Leichte Sprache“ im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung. Bock, Bettina M.; Fix, Ulla; Lange, Daisy (Hrsg.), 2017, S. 337 – 341. ISBN: 978-3-7329-0282-8
Kohnen, N.; Härtig, H.; Bernholt, S.; Retelsdorf, J.
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Wasser ist nur H2O - oder doch nicht? : Überlegungen zur Bedeutung von Sprache im naturwissenschaftlichen Unterricht. In: Sprachen - Bilden - Chancen: Sprachbildung in Didaktik und Lehrkräftebildung. Jostes, Brigitte; Caspari, Daniela; Lütke, Beate (Hrsg.), 2017, S. 243 – 254. ISBN: 978-3-8309-3599-5
Härtig, H.; Kohnen, N.; Parchmann, I.
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(2019). The role of knowledge of connectives in comprehension of a German narrative text. Journal of Research in Reading, 24(4), 621
Kohnen, N.; & Retelsdorf, J.