Astronomiegeschichtliche Bearbeitung von Keilschrifttexten über Zeitdifferenzen. Vorhersage von Tagen und Zeitpunkten in der babylonischen Mondtheorie.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Mondtheorie ist das Kernstück der babylonischen Astronomie. Die als „Kolonne Φ" bekannten Datenreihen enthalten Informationen über die variable Mondgeschwindigkeit. Die empirische Basis von Φ sind Beobachtungen von den Lunar Four: vier Zeitdifferenzen zwischen Auf- und Untergang von Mond und Sonne, gemessen in den Tagen kurz vor oder kurz nach dem Zeitpunkt des Vollmonds. Die Summe Σ der Lunar Four schwingt mit derselben Phase, Periode und Amplitude wie Φ. In der Forschung bestand allgemeiner Konsens darüber, dass Φ irgendwie von Σ abgeleitet wurde; doch gab es verschiedene konkurrierende Erklärungsansätze. Aufgrund der Besonderheiten der Quellen und der Überlieferungslage lässt sich ein tieferes Verständnis der von den Babyloniern verwandten Verfahren nur aus der Kombination und dem wechselseitigen Abgleich unterschiedlicher Teilaspekte gewinnen. Auf diese Weise ergibt sich ein Puzzle mit verschiedenen Teilstücken, die sich allmählich zu einem Gesamtbild vom Wissen und Können der Babylonier fügen. Im Laufe dieses Projektes sind vier bisher unbekannte astronomische Keilschrifttexte übersetzt, astronomisch interpretiert und publiziert worden. Ein Text gibt Information über die frühesten astronomischen Schemata, die in dem astronomisch/astrologischen Kompendium Enuma Anu Enlil 14 aufgeschrieben worden sind. Die übrigen drei Texte hängen mit der so genannten Goal-Year-Methode zusammen, die es ermöglichte, spezifische charakteristische Zeitintervalle zwischen Auf- und Untergang von Sonne und Mond vorherzusagen. Einer dieser Texte, der Lehrtext des British Museum (BM42282-1-42294), erwies sich als besonders wichtig. Er enthielt den Beweis dafür, dass die Babylonier tatsächlich je nach Größe der gegebenen Zeitintervalle verschiedene Verfahren verwendeten. Dass es zu den rekonstruierten Goal-Year Verfahren je nach Größe der beteiligten Zeitintervalle auch Korrekturen geben müsse, war von L. Brack-Bernsen bereits 1997 postuliert worden. Deshalb ist war sehr erfreulich, diese Regeln in Keilschrift zu finden. Dieser Text ist auch deshalb so interessant, weil er ein „reiner Lehrtext" ist, und dennoch fängt er mit einer Beschwörung an, die zeigt, dass das astronomische Wissen der Babylonier als Geheimwissenschaft einzustufen ist. Wissen ist gleich Macht, und so versuchte man das Wissen nur an die nächsten Verwandten weiter zu geben. Dieser Text gab auch Anlass zu Untersuchungen, die darauf zielten, herauszufinden, wie die Babylonier im Voraus die Tage der so genannten „Lunar Six"-Zeitintervalle ermitteln konnten. Dies ist tatsächlich gelungen, und dabei ist eine recht einfache Methode gefunden worden, anhand welcher die Tagesnummer bestimmt werden kann: Je nach dem verwendeten Goal-Year-Verfahren fand das Phänomen an demselben Tag im babylonischen Kalender statt wie ein Saros früher, oder es wurde um einen Tag verschoben. Dieses Resultat ist sehr wichtig, denn es erklärt, wie es den Babyloniern möglich war, sich im ganzen Land auf die Monatslänge zu einigen. Außerdem konnte der Einfluss der Mondbreite auf die Tage der „Lunar Four" nachgewiesen werden. Nur bei großer negative Mondbreite (β(◌) < - 4°) trat Tag 16 auf, während Tag 12 nur bei β(◌) > +4° auftreten konnte. Sonst macht sich die veränderliche Mondbreite durch wechselnde Reihenfolgen der „Lunar Four" bemerkbar. Wir haben damit noch einen weiteren Hinweis darauf, wie die Babylonier die Mondbreite durch verschiedene Beobachtungen haben verfolgen können. Zwei schon früher veröffentlichte Texte, die so genannten atypischen Texte E und C, wurden neu bearbeitet und lieferten neues Wissen über die Erfassung der Mondbreite sowie über das Rechnen mit Zahlen aus der wichtigen und rätselhaften Kolonne Φ die Information über die Mondgeschwindigkeit in sich trägt. Auch wenn der Text C noch nicht in allen Einzelheiten verstanden ist, so haben wir dennoch gesehen, dass Zahlen aus Kolonne Φ mit Finsternisdaten gekoppelt wurden und dass der Zyklus von 14 Monaten eine wichtige Rolle spielte. Außerdem wurde klar, dass der kleinste mögliche Abstand δ zwischen Zahlen der Kolonne Φ vielfach bei den Rechnungen genützt wurde. In den Arbeiten über den babylonischen Kalender wurde auf die Kontinuität dieses Lunisolar-Kalenders hingewiesen sowie auf die Kontinuität der sich entwickelnden Astronomie. Diese Kontinuität in der Auswahl von „interessanten" Phänomenen sowie die Kontinuität in der Methodik, Phänomene numehsch zu erfassen oder vorherzusagen, hat es uns ermöglicht, viele unbekannte oder noch nicht verstandene astronomische Keilschrifttexte zu bearbeiten und zu edieren. Dadurch haben wir jetzt ein viel tieferes Verständnis über die sich entwickelnde babylonische Astronomie. Wir kennen viele verschiedene Vorhersage-Methoden und verstehen die dahinter liegenden Konzepte. Wir wissen, dass die Goal-Year-Methode zur Vorhersage der Lunar Six-Zeitintervalle schon so früh wie im 7. Jahrhundert v. Chr. bekannt war, und dass sie über Jahrhunderte verwendet wurde. Die Methode ermöglichte sogar, die Tage innerhalb des babylonischen Monats, an denen die Lunar Six gemessen wurden, vorherzusagen. Die Methode basiert auf den Summen ME+GE6 und SU + NA, weiche die tägliche Verspätung des auf- resp. untergehenden Mondes messen. Damit wurden Monat für Monat die um einen Saros später zu erwartenden Werte der Lunar Four-Zeitintervalle SU, NA, ME und GE6 berechnet - und sichelich auch mit beobachteten Werten dieser Größen verglichen. Die Summe Σ der Lunar Four misst die Elongationsbewegung des Mondes über zwei Tage, und sie wurde als die doppelte Mondgeschwindigkeit übernommen. Diese Erkenntnisse, kombiniert mit der frühen (TU11)-Methode zur Vorhersage von Mondfinsternissen und dem Wissen (aus dem atypischen Text C), wie mit Zahlen aus „Kolonne Φ" gerechnet wurde, sowie deren Verbindung zu Finsternisdaten, geben uns eine solide Basis für eine glaubhafte Rekonstruktion von Kolonne Φ. Es fehlen noch einige Schritte; aber wir hoffen, bald eine vollständige (aus der Goal-Year-Methode erwachsende) Rekonstruktion präsentieren zu können.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„On 'the Atypical Astronomical Cuneiform Text E': A mean value scheme for predicting lunar latitude". Archiv für Orientforschung 51 (2005/2006), 96-107
Lis Brack-Bernsen and Hermann Hunger
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„The 360 day year in Mesopotamia". In: Calendars and Years: Astronomy and Time in the Ancient Near East, hrsg. v. J. M. Steele (Oxford: Oxbow Books, 2007), 83-100
Lis Brack-Bernsen
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„BM 42282+H42294 and the Goal-Year Method". SCIAMVS 9 (2008), 3-23
Brack-Bernsen, L. and Hunger, H.
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"Prediction of days and pattern of the Babylonian Lunar Six". In: Archiv für Orientforschung Band 52 (2010), SS. 156 - 178
Lis Brack-Bernsen
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„Methods for understanding and reconstructing Babylonian predicting rules". In: Writings of early scholars in the ancient Near East, Egypt, Rome, and Greece, ed. by Annette Imhausen and Tanja Pommerening, Beiträge zur Altertumskunde, Bd 286 (Berlin: de Gruyter, 2010), 277-297
Lis Brack-Bernsen
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„14 -Month Intervals of Lunar Velocity and Column Φ in Babylonian Astronomy: Atypical text C". In: The Empirical Dimension of Ancient Near Eastern Studies/ Die empirische Dimension altorientalischer Forschungen, hrsg. von Gerhard J. Selz unter Mitarbeit v. Klaus Wagensonner, Wiener Offene Orientalistik (Wien: LITVerlag, 2011),S. 111-130
Lis Brack-Bernsen and John M. Steele