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Rückwanderung und Lebenslauf: Das Beispiel rückkehrender Graduierter nach Bulgarien

Fachliche Zuordnung Humangeographie
Förderung Förderung von 2014 bis 2018
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 268290560
 
Erstellungsjahr 2019

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Forschungsprojekt untersuchte am Beispiel der Rückwanderungs- und Bleibeentscheidungen von bulgarischen Graduierten die individuellen Entscheidungs- und Handlungsmuster der Mobilitätsentscheidung unter Berücksichtigung kontextueller Faktoren. Die Konzentration auf die Akteurs-Perspektive sollte ein besseres Verständnis der Migrations-, Rückwanderungs- und Bleibeentscheidungen ermöglichen. Empirisch wurde mit Methoden der qualitativen Sozialforschung gearbeitet. Dazu gehörte eine Serie von 30 biographischen Interviews mit bulgarischen Bildungsmigrant*innen, die nach dem Studienabschluss zurückgekehrt waren. Als Vergleichsgruppe wurde eine inhaltlich identisch aufgebaute Interviewserie mit 30 bulgarischen Bildungsmigrant*innen durchgeführt, die nach dem Studienabschluss in Deutschland verblieben waren. Ergänzend wurde eine Institutionenanalyse im Feld der Deutsch-Bulgarischen Beziehungen zum Thema Bildung durchgeführt, die aus Dokumentenanalysen, Internetrecherchen sowie zehn Experteninterviews bestand. Die vorliegende Forschung bestätigt Erkenntnisse, die Bleibe- oder Rückkehrentscheidungen in Verbindung mit der Existenz von Sozialkapital im Herkunfts- oder Gastland sieht. Auch die Bedeutung einer Arbeitsmarktplatzierung im Herkunfts- oder Gastland und die Rolle, die subjektive Wissensbestände bei der Bewertung der persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten spielen, konnte durch die vorliegende Untersuchung bestätigt werden. Hinsichtlich der Mobilitätsentscheidung nach dem Studienabschluss zeigte sich, dass diese auf der Basis vorheriger Erfahrungen und vor dem Hintergrund von konkreten Erwartungen hinsichtlich biographischer, sozialer und materieller Folgen gefällt werden. Auch Emotionalität spielte eine wesentliche Rolle und liefert eine Erklärung für die in der Migrationsforschung häufig beobachtete fehlende Passfähigkeit zwischen Eigenprognosen und tatsächlichem Verhalten hinsichtlich Bleibedauer und Migrationsentscheidungen. Die Vorannahme, dass diese Entscheidungsphase nach dem Studienabschluss zugleich eine Phase der „biographischen Unsicherheit“ darstellte, bestätigte sich. Dies hängt nicht nur mit der eigenen biographischen Transition zusammen, sondern mit der Entwertung von „Normalbiographien“ im Kontext der postsozialistischen Transformation und damit dem Fehlen von etablierten Rollenmodellen. Die Entscheidungsfindung hing stark von sozialen Beziehungen in einem transnationalen sozialen Raum ab, der nicht nur durch persönliche Mobilität, sondern sehr stark durch Aktivitäten in sozialen Medien geprägt wurde. Zugleich wurden die Studierenden durch ein langjähriges Abwanderungsnarrativ beeinflusst, welches sich während der Transformationsjahre entwickelt hat und intergenerationell weitergegeben wird. Die vorliegende Forschung gibt Hinweise auf einen Wandel dieses Narrativs. Wurde in den frühen 2000er Jahren Rückkehr noch überwiegend als Zeichen des persönlichen Scheiterns empfunden, so wandelte sich diese Einschätzung in den Jahren nach Bulgariens EU-Beitritt deutlich. Potenzielle Rückkehrer*innen konnten sich durch die Spiegelung an der peer group über althergebrachte gesellschaftliche Normen des „Erfolgs durch Emigration“ hinwegsetzen und ein neues Mobilitätsnarrativ hinsichtlich einer Positivselektion der Rückkehrer*innen kreieren, die mit ihrem Wissen und dem Willen zum gesellschaftlichen Engagement die weitere positive Entwicklung des Herkunftslandes maßgeblich beeinflussen können. Die Forschungsergebnisse lieferten auch aufschlussreiche Daten über die Entstehung, Transformation und Rückübertragung sozialen Kapitals. Dabei zeigte sich eine Verknüpfung von wissenssoziologischen Ansätzen, der Theorie sozialen Kapitals und der transnationalen Theorie als nutzbringend. Zunächst konzentrierten sich die Analysen auf die Ausdifferenzierung des transnationalen sozialen Kapitals und seiner Nutzung durch die Migrant*innen. Während familiäre Netzwerke als „natürliche“ Ressourcen konzipiert wurden, die vor allem die Identität stabilisierendes bonding social capital im Sinne von Putnam darstellten, sorgten vor allem professionelle Netzwerke wie Studierendenorganisationen etc. dafür, dass die Migrant*innen den Übergang vom Studium in den Beruf – verbunden mit der Bleibe- oder Rückwanderungsentscheidung – meistern konnten. Damit unterstützte transnationales soziales Kapital die Migrant*innen dabei, ihre biographischen Aktivitäten an Zukunftserwartungen und materielle Gegebenheiten anzupassen. Dabei war das Motiv der sozialen Innovation als Bestandteil post-materieller Lebensziele ein wichtiger Faktor für die Entwicklung von Lebenszufriedenheit. Die Rückkehrer*innen entwickelten soziale Innovationen auf der Basis von Reflexivität sowie vor dem Hintergrund eines transnationalen Referenzrahmens. Als Folge von spezifischen, gemeinschaftlich erlebten Lebenslaufereignissen entsteht ein nachhaltiges „Wir“-Gefühl, dass zur Grundlage von Handlungen wird. Für weitere Forschungen in diesem Themenfeld könnte die Verbindung des wissenssoziologischen Konzeptes des konjunktiven Erfahrungsraums und der transnationalen sozialen Räume von Gewinn sein. Beide Konzepte heben die Mobilität von Wissen, Handlungsorientierungen und Praktiken hervor, die weit über körperliche Mobilitätserfahrungen hinausreichen, sowie die Relevanz bestimmter Konstellationen in Zeit und Raum, die einen gemeinsamen Bezugsrahmen für die Akteur*innen bilden. Die vorgelegten Forschungsergebnisse bieten einen vielfältigen Anwendungsnutzen sowie Anregungen für weitere, vergleichende Forschungen zu Mobilität und Wissenstransfer in Transformationskontexten.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2016), Return Migration and Regional Development in Europe. Mobility Against the Stream. Basingstoke: Palgrave Macmillan Publishers
    Nadler, R., Z. Kóvacs, B. Glorius & T. Lang (eds.)
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1057/978-1-137-57509-8)
  • (2016): Gekommen um zu bleiben? Der Verbleib internationaler Studierender in Deutschland aus einer Lebenslaufperspektive. In: Raumforschung und Raumordnung, Vol. 74, Issue 4, 361-371
    Glorius, B.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s13147-016-0410-y)
  • (2017): Transnationale Bildungs- und Mobilitätsbiographien von Absolventinnen und Absolventen Deutscher Auslandsschulen. In: Tölle, A. und R. Wehrhahn (eds.), Translokalität und lokale Raumproduktionen in transnationaler Perspektive. Berlin: logos Verlag, 97-117
    Glorius, B.
  • (2019): Back to Bulgaria: Rückwanderungsentscheidungen bulgarischer Graduierter nach dem Auslandsstudium. Chemnitzer Beiträge zur Humangeographie online, 6
    Glorius, B., Lazova, Y.
 
 

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