Kindertheologie und schulische Alltagspraxis. Eine rekonstruktive Studie zum Verhältnis von kindertheologischen Normen und eingeschliffenen Routinen im Religionsunterricht
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt hatte zum Ziel, den Alltagsunterricht der Lehrkräfte mit seinen eigenen Normen und Regelhaftigkeiten zu beobachten und zu kindertheologischen Normen in ein dialogisches, kritisches Verhältnis zu setzen. Das so generierte Reflexionswissen führte auf konzeptioneller Ebene zu einer Ausdifferenzierung von „Kindertheologie“, auf einer Theorie-Praxis-Ebene zu einer Präzisierung der Erwartungen, die das kindertheologische Leitbild an den Alltagsunterricht stellt. Wir (Hanna Roose, Anika Loose, Jasmin Eichholtz) zeichneten fünf Unterrichtsreihen zu biblischen Themen an unterschiedlichen Grundschulen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen videographisch auf (Mose – 3. Klasse; Advent – 3. Klasse, David – 3. Klasse, Ostern – 4. Klasse, Gottesbilder – 1. Klasse) und analysierten aus den 27 Unterrichtsstunden – unterschiedlich intensiv – ca. 55 Szenen (z.T. gemeinsam mit Norbert Ricken und Nele Kuhlmann). Alle Klassen wurden von erfahrenen Religionslehrkräften unterrichtet. Ausgangspunkt für die Szenenauswahl war einerseits die Frage, wo aus Sicht der Kindertheologie Chancen zum theologischen Gespräch genutzt bzw. vertan wurden, andererseits die Frage, wo es Brüche im Ablauf des Unterrichts gab. Die Szenen wurden in drei Schritten analysiert: Im ersten Schritt wurde der Unterricht (top-down) im Anschluss an die von Petra Freudenberger-Lötz (2007) entwickelten Fragen zur Beurteilung theologischer Gespräche analysiert. Aber: Die Lehrkräfte wurden in unserem Projekt nicht gebeten, kindertheologisch inspirierten Unterricht zu zeigen. Sie sollten – so weit möglich – so unterrichten „wie immer". Das Projekt hatte nicht zum Ziel, Lehrkräfte dahingehend zu bewerten, wie „gut" sie ihnen vorgegebene kindertheologische Normen umsetzen können. Das Ziel bestand vielmehr darin zu erheben, wie viel Kindertheologie in schulischer Alltagspraxis „steckt“. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zur Forschungswerkstatt von Freudenberger-Lötz. Im zweiten Schritt rekonstruierten wir (bottom-up) die Normativität unterrichtlicher Praktiken anhand der Adressierungsanalyse nach Reh / Ricken 2012. Im dritten Schritt setzten wir kindertheologische Normen und die Normativität der Praxis in ein dialogisches Verhältnis. Das konstitutive interpretativ-analytische Element des Projekts (zweiter Analyseschritt) mit seiner Suspendierung der Frage nach „gutem“ RU traf in religionsdidaktischen Wissenschaftsdiskursen z.T. auf wenig Verständnis. Offenbar kollidiert der interpretative Zugriff mit einer starken Fokussierung auf die handlungstheoretisch fundierte Frage nach der Verbesserung von RU durch die Befassung mit „good practice-Beispielen“ und einer „besseren“ Professionalisierung der Lehrkräfte. Aber erst wenn wir besser verstehen, welche expliziten und impliziten Normen in der Alltagspraxis konstitutiv wirksam sind, können wir differenzierte Aussagen darüber machen, welche Veränderungen ein normatives Leitbild vom Alltagsunterricht erwartet und wo diese Normen möglicherweise mit der Normativität der Praxis kollidieren. Die Adressierungsanalyse brachte spezifische Bearbeitungsformen von Normenkonflikten zutage (Selbsttätigkeit vs. Zielorientierung; Lerngemeinschaft vs. Leistungsorientierung; Nähe vs. Distanz) und legt u.a. die Vermutung nahe, dass „große Fragen“ (Oberthür) den Lehrkräften einerseits (kognitiv) als zu „schwer“, andererseits (affektiv) als zu „persönlich“ gelten. Die Aufforderung an die SchülerInnen, sich klassenöffentlich in religiösen Fragen zu positionieren, markiert die von uns beobachtete unterrichtliche Praxis in weiten Teilen latent als Vereinnahmung. Vereinnahmung meint dann nicht die fremdbestimmte Festlegung auf eine religiöse Position, sondern die eingeforderte selbstbestimmte Festlegung auf eine (religiöse) Position vor der Klasse. Dort, wo es um „große“ Fragen geht, werden Kinder davor „geschützt“, sich selbst im halb-öffentlichen Raum des Unterrichts positionieren zu müssen. Genau diese Praktiken der Positionierung von Kindern in religiösen Fragen vor der Klassenöffentlichkeit wären für theologische Gespräche aber konstitutiv. Wir stoßen hier also auf ein wesentliches Hindernis für die Umsetzung eines kindertheologischen Leitbildes im Unterricht. Es wäre interessant, ob sich dieser Befund in theologischen Gesprächen mit Jugendlichen außerhalb der Klassenöffentlichkeit, also z.B. in Kleingruppen sowie in kirchlichen Kontexten, anders darstellt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Kindertheologie und schulische Alltagspraxis. Eine rekonstruktive Studie zum Verhältnis von kindertheologischen Normen und eingeschliffenen Routinen im Religionsunterricht, Jahrbuch für Kindertheologie 15, Stuttgart 2016, 13–22
Roose, H.
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Literarische und theologische Gespräche. Eine interdisziplinäre Perspektive. Theo-Web 15/2016, 207–222
Roose, H.
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Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium der Kinder- und Jugendtheologie? In: dies. / E. E. Schwarz (Hg.), „Da muss ich dann auch alles machen, was er sagt“. Kindertheologie im Unterricht, Jahrbuch für Kindertheologie 15, Stuttgart 2016, 56–61
Roose, H.
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Familienähnlichkeiten: Das fragend-entwickelnde und das theologische Unterrichtsgespräch. Theo-Web 16/2017, 275-289
Roose, H.
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Kommunikation des Evangeliums – ein Leitbegriff für die Kinder- und Jugendtheologie? Versuch einer Ortsbestimmung. In: T. Schlag / H. Roose / G. Büttner (Hg.), „Was ist für dich der Sinn?“ Kommunikation des Evangeliums mit Kindern und Jugendlichen, JaBuKiJu 1, Stuttgart 2018, 240-248
Roose, H.
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Religionsunterricht zwischen normativem Anspruch und alltäglicher Wirklichkeit. Ein rekonstruktives Forschungsprojekt. In: U. Riegel / M. Schambeck (Hg.), Was im Religionsunterricht so läuft – Wege religionspädagogischer Unterrichtsforschung und was sie f
Roose, H.