"Everybody". Eine transnationale Ikonografie
Kunstgeschichte
Zusammenfassung der Projektergebnisse
In diesem Forschungsprojekt wurde untersucht wie über den Einsatz von Bildern das Publikum adressiert wird und öffentliche Präsenz und Resonanz generiert werden. Der Fokus lag auf anthropomorphen Bildfiguren, die in der Werbung, der politischen Propaganda, aber auch in Filmen oder in der bildenden Kunst als Mittler eingesetzt werden und die tendenziell hinter die Botschaft, die sie zu transportieren suchen, zurücktreten – auch wenn sie in Spannung zu dieser vermittelnden Funktion vor allem in der Gegenwart manchmal zum Star werden. Eine zentrale These des Projektes ist, dass solche bildhaft inszenierte "everbodies" (Michel de Certeau) ähnlich wie die soziologische Figur der "dritten Person" operieren: Sie produzieren Verführung und Übergänge, können aber auch überwältigen oder transgressiv wirken. Solche Figuren gehen mit einer starken Ambivalenz einher, da sie sowohl Freund-Feind-Muster durchkreuzen, als auch Hass und Ressentiments verstärken. Im komplexen Prozess mediatisierten Agenda-Setzens im öffentlichen Raum werden über sie partikulare Gesichter und Auftrittsweise mit einer universellen Ansprache des Publikums verknüpft, und die so übermittelten Botschaften zugleich mit einem körperlichen, nahe am Realen angesiedelten Appeal versehen. Sie bürgen zudem für eine Wahrheit und Authentizität des Dargestellten und bieten eine Bühne, um scheinbar ungeschminkte Erfahrungen oder auch emotionale Selbsteröffnung zu kommunizieren. Auf diese Weise vermögen sie es, das Begehren des Publikums ins Ganz zu setzen und in Gang zu halten, Resonanz zu erzeugen und Handlungen (unter Umständen auch ein Handeln mit Bildern bzw. Bildadaptionen) anzuregen. Wie über verschiedenste Fallstudien gezeigt werden konnte, spielen everybodies aufgrund dieser Charakteristika sowohl für historische und zeitgenössische Populismen, als auch für Aktivitäten der Popularisierung und des Agenda-Settings im öffentlichen Raum generell, eine konstitutive Rolle. Eine weitere Kernthese des Projektes betrifft die Überlieferungsgeschichte solcher Bildfiguren: Einerseits können für diese verschiedenste diverse Kulturen umfassende und von langer Dauer gekennzeichnete Traditionslinien rekonstruiert werden. Diese reichen vom "Narrenschiff" und den "Everyman" Stücken des Spätmittelalters über die alltäglichen, „nichtigen Gestalten“, die Michel de Montaigne in seinem Werk anspricht, bis zu Christusbildern oder Buddha-Figuren. Zum anderen werden everybodies mit dem politischen Umbruch, der mit den großen Revolutionen des 16. bis 19. Jahrhundert einhergeht, re-figuriert, indem sie mit dem politischen Mythos und der Autorität des Volks verschmolzen wurden. Es entstand ein bis heute die politische Agitation prägender Typus von Figuration, in dem ein aus der aufrührerischen Menge herausgegriffener, aber zugleich als mit ihr verbunden in Szene gesetzten everybody als eine Art Resonanzkörper visualisiert wird. Neben diesem Typus der Figuration gibt es – so eine dritte Kernthese des Projektes – noch drei weitere: Everybodies werden auch als mit Namen versehene Kollektivgesichter figuriert, die wie die Maske in Gestalt des Guy Fawkes einen Gemeinschaftskörper zusammenhalten und ihm Wiedererkennbarkeit und charakteristische Züge, aber auch Anonymität verleihen. Ein weiterer Typus besteht in der Darstellung von Figuren wie Clowns, Tramps oder Botenfiguren (Engel oder Kuriere), deren Maske mehr oder minder stark festgelegt ist und die unterschiedlichen Kontexte durchqueren, wobei sie das Publikum an verschiedene Schauplätze von Gesellschaft geleiten bzw. generell auf Gesellschaft hinführen. Ein letzter Typus, dem vor allem seit den 1960er Jahren größere Prominenz zukommt, besteht dagegen in Gestaltungen, bei denen Repräsentanten und Repräsentantinnen gesellschaftlicher Andersheit als Spiegel des Eigenen inszeniert auftreten. Beispiele dafür sind Inszenierungen von Frauen, von Migranten oder von auf unterschiedliche Weise hybriden Gestalten als Doppelgänger des Publikums und Linse der Selbstreflexion und Gesellschaftsbetrachtung. Diese vier Typen der Figuration treten selten deutlich voneinander geschieden auf, sondern überlappen sich bzw. treten unterschiedlich akzentuiert in Erscheinung.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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“Everyday Life“. In: Kathrin Fahlenbrach, Martin Klimke und Joachim Scharloth (Hg.), Protest Cultures: A Companion Bd. 1: Elements of Protest, New York: Berghahn Books, 2016, 294–303
Anna Schober
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„Jenseits von progressiv versus konservativ. Nicht-konformistische Geschlechterinszenierungen und der neoliberale Zeitgeist“. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Themenheft „(Non-)Konformismus“, Nr. 3/2016, 43–54
Anna Schober
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„Erotik, Gewalt und Folklore: Die Inszenierung geschlechtlicher und ethnischer Differenz im jugoslawischen Kino um 1968“. In: Aylin Basaran, Julia B. Köhne, Christina Wieder und Klaudija Sabo (Hg.), Sexualität und Widerstand. Internationale Filmkulturen und Literaturen, Wien: Mandelbaum Verlag 2018, 207–226
Anna Schober
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Popularisation and Populism through the Visual Arts: Attraction Images, London und New York: Routledge (Arts and Visual Culture Series) 2019, 222 pages.
Anna Schober
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Un vagabondo diventa un leader populista. Arriva John Doe come riflessione cinematografica sul ruolo degli "uomini qualunque" nei processi politici . In: Cinema e storia 2019. Cinema e populismo. Modelli e immaginari di una categoria politica. 2019, pp.57-74.
Anna Schober
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Wir und die Anderen: Visuelle Kultur zwischen Aneignung und Ausgrenzung.
Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur, Band 7. 2021, 288 S., ISBN 978-3-86962-395-5
Anna Schober und Brigitte Hipfl