Typologie und Theorie der Remotivierung
Einzelsprachwissenschaften, Historische Linguistik
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ausgangspunkt des TheoRem-Projekts war, dass die Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens überwiegend als seine normale Eigenschaft angesehen wird, seine Motiviertheit dagegen als eine abweichende. Dementsprechend gelten Prozesse der formalen und semantischen Abschwächung als Normalfall des Sprachwandels und werden als unumkehrbar angesehen, während Prozesse der formalen und semantischen Verstärkung für Zu- und Sonderfälle gehalten und als Störungen der Unidirektionalität sprachlichen Wandels aufgefasst werden. Hier empirisch fundiert gegenzuhalten, die beobachteten Phänomene zu typisieren und eine Theorie der Remotivierung zu entwerfen, war Ziel des Projekts. Als eine erste wichtige typologische Unterscheidung wurde die zwischen zeichengebundenen und gebrauchsgebundenen Remotivierungen herausgearbeitet und an unterschiedlichen Phänomenbereichen (Sprachwandel, Spracherwerb, politischer Kommunikation usw.) verifiziert: Jene setzen an der Ausdrucksseite des Zeichens an und entdecken darin überhaupt erst oder mehr Sinn und Struktur, diese laden das sprachliche Zeichen aus dem Weltwissen semantisch auf. Typische Vertreter der ersten Art sind etwa Volksetymologien (hamaca > Hängematte), Suffixreanalysen (frz. cerise > engl. cherrie-s/cherry) oder De-Idiomatisierungen (Maschinen be-dienen > Maschinen statt Menschen dienen), solche der zweiten Art sind Anreicherungen ursprünglich neutraler Zeichen mit konnotativen Bedeutungsmerkmalen aus ihrer (oft historisch belasteten) Verwendung, sowohl bei Appellativa (Endlösung ‚endgültige Lösung‘ > ‚Vernichtung der Juden‘) als auch bei Eigennamen (Exonymenverwendung als mögliches Indiz für eine revanchistische Haltung). Wesentliche Gegensätze konnten sodann innerhalb der genannten Großtypen herausgefunden werden: Beim zeichengebundenen Typus konnten den Reanalysen („Form sucht Bedeutung“: Beispiele s.o.) die Pleonasmen („Bedeutung sucht zusätzlichen formalen Ausdruck“: optimal > optimal-st) systematisch entgegengesetzt werden, bei den gebrauchsgebundenen den Rekontextualisierungen („Aufladung mit Weltwissen“: Beispiele s.o.) die Relokutionen („Abstoßung von Weltwissen“: Bist du mit dem Auto da? – Ja [statt: Ich kann dich mitnehmen]). Drittens konnten wechelseitige Beziehungen zwischen diesen Subtypen festgestellt werden, so wenn zunächst konnotativ rekontextualisierte Zeichen ihre neutrale Bedeutung verlieren und schließlich auch denotativ nur noch das bedeuten, womit sie semantisch aufgeladen wurden (Endlösung ‚Genozid‘). Die Phänomene konnten schließlich auch danach differenziert werden, ob die Remotivierungen unbewusst oder bewusst erfolgen. Klassische Gegenspieler sind hier etwa Volksetymologien vs. etymologisierende De-Idiomatisierungen, die dann nicht nur mit der Zeichenform ‚spielen‘, sondern auch für Zwecke des öffentlichen Diskurses funktionalisiert werden können (Beispiel s.o.). Herausforderung für die Theorie war, alle unterschiedlichen Typen als – allerdings spezifische – Ausprägungen nur einer Kraft, nämlich der Remotivierung, zu modellieren. Als allgemeines Theorem wurde die Suche nach (mehr) Sinn und, bei den zeichengebundenen, auch nach (mehr) Struktur eines Zeichens und gegebenfalls die handlungsstrategische Funktionalisierung der Ergebnisse dieser Suche (im Zeichen oder in seinem Verwendungskontext) erkannt. Die bei allen Subtypen der Remotivierung sichtbar werdende Re- Interpretation und Um-Nutzung von Zeichen oder Zeichenbestandteilen konnte mit dem evolutionstheoretischen Prinzip der Exaptation erklärt werden. Gegen die eingangs erwähnte – und kritisierte – Einschätzung von Remotivierungsprozessen als Kuriosa der Sprachdynamik, die anders als die vieluntersuchten und für ‚normal‘ gehaltenen Demotivierungsprozesse nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft verlaufen und nicht global, sondern sporadisch vorkommen, wurde das Theorem der Kontingenz dieser Vorgänge gesetzt und herausgearbeitet, dass sie deswegen nicht stringent verlaufen, weil sie in Bedingungen semantischer – bei zeichengebundenen Remotivierungen auch lautlicher und bei gebrauchsgebundenen Remotivierungen auch kontextueller – Passung ihre Realisierungsmöglichkeiten und gleichzeitig -grenzen finden. Das hindert nicht, das stets latente Bemühen um Remotivierung als (Zurück-) Streben nach der Ur-Motiviertheit sprachlicher Zeichen aufzufassen, das der Tendenz der Demotivierung sprachlicher Zeichen zu arbiträren Gebilden und deren Konventionalisierung grundsätzlich widerstrebt und das, „wann immer es geht“, also wenn im obigen Sinne günstige Umstände vorliegen, virulent wird.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- 2017. Die Suche nach mehr Sinn. Lexikalischer Wandel durch Remotivierung. In: Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 8, 71-89
Rüdiger Harnisch & Manuela Krieger
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/jbgsg-2017-0006) - 2017. Prozesse up and down the cline und die Frage der (De-)Grammatkalisierung. In: JournaLIPP 5, 85-97
Rüdiger Harnisch & Manuela Krieger
- 2017. Remotivierung bei Eigennamen. Kontingenz – Typologie – Theorie. In: Namenkundliche Informationen 109/110, 250-268
Rüdiger Harnisch
- 2018. Erinnerungsort Ortsname. In: Prague Papers on the History of International Relations 1/2018, 116-126
Rüdiger Harnisch
- 2018. Partizipien als meliorisierende Ersatzkonstruktionen für pejorisierte personenbezeichnende Derivata. Zu Prozessen semantischer und pragmatischer Remotivierung im Zeichen der Flüchtlings- (oder Geflüchteten-?) Krise um das Jahr 2015. In: Annamária Fábián & Igor Trost. Hg. Sprachgebrauch in der Politik. Berlin, Boston: De Gruyter, 217-237
Rüdiger Harnisch
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110640731-012) - 2018. Reanalyse durch Varietätenkontakt – Morphogenese durch Hyperkorrektion. In: Alexandra Lenz & Albrecht Plewnia. Hg. Variation – Normen – Identitäten (Germanistische Sprachwissenschaft um 2020, Band 4). Berlin, Bosten: De Gruyter, 219-239
Rüdiger Harnisch
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110538625-010) - 2019. Die Schärfung des semiotischen Blicks auf das sprachliche Zeichen. Zugänge zu seinem Verständnis in der Hochschullehre. In: Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik – Online 7, 123-150
Rüdiger Harnisch
(Siehe online unter https://doi.org/10.15475/skms.2019.2.5) - 2019. Remotivierung in (osthochdeutschen) Dialekten. In: Sebastian Kürschner, Mechthild Habermann & Peter O. Müller. Hg. Methodik moderner Dialektforschung. Erhebung, Aufbereitung und Auswertung von Daten am Beispiel des Oberdeutschen. Hildesheim: Olms (Germanistische Linguistik 241-243), 427-444
Rüdiger Harnisch