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Primitivismus und territoriale Souveränität. Temporale Konzepte in der deutschen Volks- und Völkerkunde (1850er bis 1930er Jahre)
Antragsteller
Professor Dr. Christof Dejung
Fachliche Zuordnung
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung
Förderung von 2016 bis 2018
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 284309830
In diesem Projekt wird die These vertreten, dass in den europäischen Gesellschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts soziale Machtpositionen und territoriale Souveränitätsansprüche eng mit bestimmten Vorstellungen von Zeitlichkeit verknüpft waren. Am Beispiel von Deutschland wird untersucht, wie kulturelle Konzepte wie Rückständigkeit oder Primitivität, die anfänglich von städtischen Eliten benutzt wurden, um einerseits ihre soziale Vorherrschaft in der deutschen Gesellschaft zu legitimieren und um andererseits koloniale Machtansprüche zu rechtfertigen, umgedeutet und so zur Grundlagen von nationalen Traditionen erklärt werden konnten. Diese Umdeutung war möglich, da das zeitgenössische Konzept von Primitivität zwei unterschiedliche Konnotationen beinhaltete. Zum einen konnte es verwendet werden, um die Beherrschung des agrarischen Hinterandes und von kolonialen Peripherien durch metropolitane Zentren zu begründen. Zum anderen konnte es im Sinne von zeitlosen Traditionen verwendet werden und so regionale und nationale Identitäten und Selbstermächtigungsanstrengungen befördern. Das Projekt nimmt diese ambivalenten Implikationen von Primitivität in den Blick, indem es sich auf die sich herausbildenden Disziplinen der Volks- und Völkerkunde konzentriert. Diese wiesen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Verbindungen auf. Zahlreiche Ethnologen untersuchten ganz selbstverständlich einheimische und überseeische Kulturen und viele Volkskundler waren ursprünglich Mitglieder von ethnologischen Gesellschaften. Diese Verbindungen wurden jedoch um die Jahrhundertwende mehr und mehr gelöst und die volkskundliche Deutung einheimischer Traditionen wurde zunehmend an national- bzw. regionalgeschichtliche Narrative angeschlossen. Das Vorhaben untersucht, mit welchen Vorstellungen von Zeitlichkeit diese disziplinäre Neuorientierung begründet wurde und inwiefern es durch einen Bedeutungszuwachs von rassistischen Deutungsmustern in der ethnologischen Forschung begleitet wurde. Es knüpft damit an die wegweisenden Werke von Forschern wie Johannes Fabian und Nicholas Thomas an, die sich mit der Bedeutung von temporalen Ordnungsvorstellungen in der ethnologischen Forschung beschäftigten. Es eröffnet aber eine grundlegend neue Perspektive, indem diese Ansätze auch auf Binnenprozesse wie Nationalismus und Regionalismus angewandt werden. Indem die Untersuchung von kolonialen und einheimischen Primitiven in einem gemeinsamen Analyserahmen untersucht werden, soll die europäische Erfindung von Traditionen mit dem Othering von nicht-europäischen Zivilisationen verknüpft werden. Dieses Vorhaben wird in der aktuellen Literatur zwar häufig zustimmend zitiert, doch nur eher selten in empirischen Studien auch tatsächlich umgesetzt.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen