"Gelebte Theologie" im Friedens- und Versöhnungsprozess Ruandas
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt konnte gelebte Theologie einerseits als Ressource für individuelle Transformationsprozesse von Täter*innen und Überlebenden nach dem Genozid von 1994 inhaltlich näher bestimmen. Gelebte Theologie trägt vor allem in ihrer biblischen Fundierung, ihrer Erfahrungssättigung, ihrem Potential zur Eröffnung denkerischer und kreativer Freiräume und in ihrem Moment der Selbstaneignung und Reflexion zur individuellen Verarbeitung von Erfahrungen extremer Gewalt bei. Überlebende und Täter*innen stehen in diesen Prozessen vor unterschiedlichen Herausforderungen. Die Überlebenden müssen nach dem Genozid zunächst wieder sprachfähig werden und sich ihre Identität neu konstruieren. Ihre gelebte Theologie enthält wichtige Elemente dieser Identitätsneukonstruktion, wenn etwa das eigene Überleben als „gottgewollt“ ausgedeutet wird. Indem sie ihr Überleben als absichtsvoll wahrnehmen, gewinnen Überlebende neue Perspektiven für die Zukunft. Für die Täter*innen geht es darum, dass eigene Schuldigwerden zu verarbeiten. Gelebte Theologie ist hier eine Ressource, weil sie Menschen ermöglicht, etwa das sühnende Tätigwerden für die Überlebenden als Ausdruck wahren Christ*in-Seins zu interpretieren und die Fähigkeit zum Eingeständnis von Schuld als Ausdruck einer lebendigen Beziehung zu Gott. Überraschend wurde im Projekt andererseits gelebte Theologie auch als Quelle einer Narrativen Ethik nach dem Genozid sichtbar. Die Erfahrung des Genozids ist im Leben der Befragten keine Erfahrung wie jede andere, sondern das Ereignis schlechthin, mit traumatischen, identitätszerstörenden Folgen. Sie erfordert daher moralische (Neu-) Positionierungen. Für Überlebende wie Täter*innen gehören zu dauerhafter Versöhnung Praktiken der Solidarität, Fürsorge und Anerkennung – Elemente eines Guten Lebens nach dem Genozid. Täter*innen und Überlebende des ruandischen Genozids knüpfen ihre zerbrochenen Beziehungen wieder zusammen, indem sie miteinander Leben teilen, Zeugnis geben, erinnern, bereuen, bekennen (gemeinsam) tätig werden, einander um Vergebung bitten und Vergebung gewähren und indem sie von Gott als dem Geber alles Lebens geläuterte Herzen empfangen. Alles diese Aspekte spannen das Feld auf, in dem für Überlebende und Täter*innen Versöhnung und das Gute Leben nach dem Genozid (wieder) erfahrbar wird. Das Projekt konnte drittens zeigen, inwiefern die individuelle Bearbeitungsprozesse extremer Gewalt von Ressourcen profitieren, die die christlichen Kirchen zur Verfügung stellen: materielle Hilfe, emotionale Unterstützung oder die Möglichkeit zur Teilnahme an gemeinschaftlichen oder sakralen Ritualen. Kirchliche Versöhnungsgruppen sind Resonanzräume für individuelle Transformationsprozesse: als Orte von Deutungsangeboten für die genozidären Erfahrungen, als Orte freiwilligen Zusammenseins von Überlebenden und Täter*innen, als Orte, an denen zerstörtes Vertrauen langsam wieder aufgebaut und Zusammenleben wieder möglich wird, als Orte, an denen Menschen Widerstand gegen staatliche Politik leisten und als Orte, die stets von der vorrangigen Option Gottes für die Ohnmächtigen und Verfolgten geprägt sind. Damit unterscheiden sich kirchliche Versöhnungsgruppen zumeist deutlich von den gewaltförmigen Mitteln, mit denen der ruandische Staat seine Bürger*innen auf die Linie seiner nationalen Einheits- und Erinnerungspolitik verpflichten will. Jedoch hängt die Glaubwürdigkeit der christlichen Versöhnungsarbeit in Ruanda langfristig an der Bereitschaft der Kirchen, sich mit ihrer genozidären Vergangenheit und ihrer Haltung gegenüber der derzeitigen ruandischen Regierung aktiv auseinanderzusetzen. Über erste Projektergebnisse führte Kirsten Dietrich von Deutschlandfunk Kultur am 7. April 2019 ein Interview mit der Forscherin (https://www.deutschlandfunkkultur.de/25-jahre-nach-dem-voelkermord-inruanda-kann-eine-schuldige.1278.de.html?dram:article_id=445631).
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Sünde und Rechtfertigung im postgenozidären Ruanda, in: C. Barnbrock/ C. Neddens (Hrsg.), Simul-Existenz. Spuren reformatorischer Anthropologie, Leipzig 2019, 206- 222
K. Peetz
- Reuelose Täterinnen - Perspektivlose Nachkommen. Zum pastoralen Umgang mit Reue(losigkeit) im postgenozidären Ruanda, in: K. Peetz/J. Enxing (Hg.), unter Mitarbeit von D. Wojtczak, Contritio. Annäherungen an Schuld, Scham und Reue, Leipzig 2017, 98-122
K. Peetz
- Die »Sünden und Fehler der Kirche« bekennen. Eine Auseinandersetzung mit der Vergebungsbitte der ruandischen Bischöfe vom 20. November 2016, in: J. Enxing/J. Koslowski (Hg.), Confessio, Leipzig 2018, 143-164
K. Peetz
- Wieder miteinander teilen können. Facetten katholischer Versöhnungsarbeit in Ruanda, in: K. Baumann/ R. Bendel, D. Maruhukiro (Hg.), Flucht, Trauma, Integration. Nachkriegseuropa und Ruanda/Burundi im Vergleich, Berlin u.a. 2018, 61-78
K. Peetz
- Practices of Symbolic Reparation in Post-Genocide Rwanda, in: J. Enxing/ D. Gautier (Hg.), Satisfactio. Über (Un-)Möglichkeiten von Wiedergutmachung, Leipzig 2019, 261-282
K. Peetz