Ehre und Ehrgemeinschaften im vormodernen Indien, 12.-14. und 16.-18. Jahrhundert: Ein Beitrag zur indologischen Ehr- und Emotionsforschung anhand tamilisch-textlicher Quellenmaterialien
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Wissensbereich “Ehre und Emotionen”. 1. Die überwiegende Mehrheit aller Arbeiten zu Indien bot bislang keine Antworten zur Fragestellung des historischen Wandels von Emotionen und zu emotional communities, also keine Antworten, wie Ehre in der Vormoderne zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen sozialen Gruppen textlich beschrieben, dargestellt und kulturell formuliert wurde; auch nicht zur Frage, welche Cluster von Emotionen den Ehrkonzepten (geschlechtsspezifische Ehre, Gruppen-, Elite-, Familienehre) zugeordnet sind. Es bestand also für die Indologie ein deutliches Desideratum. Mit den durchgeführten Arbeiten wurde diese Lücke gefüllt. 2. Auf der Grundlage der Textstudien konnte erstmals ein Bild von vormodernen Ehrmodellen zweier sozialer Gruppen und ihres Zusammenspiels mit historischen, sozialen und kulturellen Faktoren innerhalb des südindisch-tamilischen Kontextes entworfen werden. Der Befund zeigt, dass für Ehre keine funktionalen Äquivalenten bestehen. Es lässt sich mit der gebotenen Vorsicht die These aufstellen, dass für die eine Gruppe (martial) Ehre mit sozialer Integration gekoppelt war, während sie für die andere (landkultivierend) mit sozialer Distinktion in Verbindung stand. Dass dieser Befund sich nicht nur in Texten der frühen Neuzeit (16.-18. Jh.) widerspiegelt, sondern auch in Texten des 19. Jahrhunderts Bestand hat, ist dabei hervorzuheben. Wir wissen zu wenig, um sagen zu können, ob sich die historischen Befunde in Indien heute widerspiegeln. Dazu bedarf es Gegenwartsanalysen, deren Grundlage die im Projekt erarbeiteten Ergebnisse sein können. Die Befunde sind aber auch für die außereuropäische Ehr- und Emotionsgeschichte relevant sowohl für komparative Studien als auch für die Theoriediskussion im Bereich emotional communities. 3. Der westliche Ansatz der emotional communities erweist sich für das vormoderne Asien als anschlussfähig und fruchtbar. 4. Der Befund zeigt, dass der Normativität ein besonderer Stellenwert zukommt. Das Verhältnis von Norm/Theorie zur Praxis als ein marginales aufzufassen, dürfte nach diesen Untersuchungen schwerfallen. 5. Die Einschätzung, dass Ehre eine “social emotion” ist, kann in den Untersuchungen zum tamilsprachigen Südindien nicht bestätigt werden. Ehre ist keine eigenständige Emotion. Vielmehr treten in Grammatiken Ehre-Komponenten (Ehrverlust/Schande, Ruhm) als Antezedenzien von Basisemotionen auf. Ehrbezogene Emotionen hingegen sind in den literarischen Textproduktionen allgegenwärtig. 6. Für die noch ganz am Anfang stehende indologische Ehrforschung wurden neue ehraffine Primärquellen erschlossen, die bislang von der Indologie nicht beachtet und durch das Projekt erstmals zugänglich gemacht werden. Vor allem die inhaltliche Erschließung einer Maṟava-Chronik darf als Erkenntnisfortschritt gelten. 7. Hier ist noch einmal auf die Bedeutung von Master Narrativen hinzuweisen, durch die nach den Maßgaben der jeweiligen sozialen Gemeinschaft versucht wird, Identität zu stiften. Auf der Basis der Befunde scheint der Schluss gerechtfertigt, dass das Identifizieren von Master Narrativen ein methodisch sinnvoller Ansatz ist, um Ehrkonzepten zu begegnen. Wissensbereich “Vormodernes theoretisches Emotionswissen im tamilsprachigen Süden Indiens (11.-13. Jh. und 16.-17. Jh.)”. 1. Es wurde erstmals in einer Monographie systematisch das vormoderne theoretische tamilsprachige Emotionswissen als solches in den Blick genommen, wobei Fragen des Wandels, Fragestellungen der Theoretiker, deren Definition von Emotion, und Fragen des Verschwindens von Emotionswörtern im Vordergrund standen. 2. Dass die Tamilkultur kein systematisches Denken zu Emotionen, außer Emotionen in der Poetik, hervorbrachte, kann überraschen. 3. Auch war das theoretische Emotionswissen über literarische Emotionen kein geschlossenes Wissen. Es gab Linearität, Brüche, historisches Ränderwissen. Das 11.-13. Jh. darf als Brennglas des Wandels gesehen werden. 4. Zweifellos hat die literarische Textproduktion Emotion als cuvai (engl. taste, dt. Geschmack, Skt. rasa) oder ästhetische Emotion vielfach und in ganz verschiedenen Kontexten verwendet, doch als solche begrifflich benannt oder theoretisch beschrieben, wurde sie von den tamilischen Emotionstheoretikern der Poetik erst spät (11. Jh.); wie auch generell in den Tamil Emotionstheorien ein technisches Vokabular nur langsam entwickelt wurde (im Vergleich zu den Sanskrit bhāva-rasa Emotionstheorien). 5. Zwei wichtige Durchbrüche sind gelungen: Zum einen der Befund, dass sich im 16. Jh. (parallel zu Sanskrit) ein Neuansatz in den Emotionstheorien findet. Emotionen sind nun religiösen Inhalts und erhalten eine ganz neue Anwendung als heilsrelevante Emotionen. Zum anderen erwies sich die Frage nach dem semantischen Wandel von Emotionswörtern als fruchtbar. So hat z.B. der Gebrauch des Emotionswortes perumitam (Größe, Grandeur) in besonderem Maß einen Wandel erfahren. Die entscheidenden historischen Momente finden sich im 11. Jh. und 16. Jh. Eine der größten Überraschungen war, dass die intellektuelle Tamil-Kultur kein Bedürfnis verspürte, Emotion als solche zu theoretisieren. Was unserer Untersuchung zur Verfügung steht sind allein Theorien zur Emotion in der Poetik und so haben wir auch keinen anderen technischen Begriff für Emotion als “meyppāṭu”, ein Begriff, der bis heute kontrovers diskutiert und übersetzt wird.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Historicizing Emotions: Practices and Objects in India, China, and Japan. Leiden: Brill
Barbara Schuler
(Siehe online unter https://doi.org/10.1163/9789004352964) - “Food and Emotion: Can Emotions Be Worked On and Altered in Material Ways? – A Short Research Note on South India,” in Historicizing Emotions: Practices and Objects in India, China, and Japan, Leiden: Brill, 57–70
Barbara Schuler
(Siehe online unter https://doi.org/10.1163/9789004352964_004) - “Introduction: Historicizing Asian Community-Based Emotion Practices,” in Historicizing Emotions: Practices and Objects in India, China, and Japan. Leiden: Brill, 1–29
Barbara Schuler
(Siehe online unter https://doi.org/10.1163/9789004352964_002)