Typisierungen des Humanen. Visuelle Anthropologie und ihre spät- und neo-viktorianische Kritik
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt beschäftigt sich mit der formativen Kraft wissenschaftlicher, anthropologischer und medienspezifischer Sichtweisen und Klassifizierungsmuster in der Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in frühen Adaptionen der untersuchten Romane sowie im neoviktorianischen Comic. Alle drei kulturellen Formate bzw. Genres werden als Artikulationen einer kulturellen Beunruhigung angesichts der wirklichkeitserzeugenden Kraft visueller Evidenzverfahren sowie als programmatische Beispiele für die ästhetische Repräsentation der wahrnehmbaren Wirklichkeit betrachtet. Die entsprechenden Texte sind damit auch als kritische Interventionen im größeren Rahmen einer taxonomischen Neubestimmung des Humanen in der Zeit zwischen 1900 und 1930 zu verstehen. Projekt 1 konzentriert sich auf die hohe Dichte an Gesichtsbeschreibungen in der englischen Literatur um 1900, die als Symptom für ein kulturelles Wahrnehmungsproblem und, daraus folgend, ein zentrales Dilemma der realistischen Programmatik verstanden wird. Realismen arbeiten sich – so die Grundannahme – an dem ab, was sich der Sichtbarkeit und damit der Darstellbarkeit entzieht, und während die Literatur der Mitte des Jahrhunderts noch von einem physiognomischen Optimismus geprägt war und hoffte, die wahrnehmbare Wirklichkeit so akkurat wie möglich darstellen zu können, haben die wissenschaftlichen und religiösen Krisen der zweiten Jahrhunderthälfte dazu geführt, dass die Wahrnehmung des Gesichts als Signatur des Menschen in eine Krise geriet. Mit einer Ausnahme sind alle im Buch behandelten Romane – R.L. Stevensons Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde, Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray, George du Mauriers Trilby, Bram Stokers Dracula, Walter de la Mares The Return und Henry James’ The Tragic Muse – im phantastischen Modus verfasst und damit von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der menschlichen Erkenntnisfähigkeit geprägt. Alle sechs Romane imaginieren doppelgesichtige Figuren, die einerseits an die soziologische Vorstellung vom Rollengesicht anknüpfen lassen, andererseits die bildanthropologische Annahme der notwendigen Selbstprojektion ins Bild literalisieren. In jedem Fall lässt sich die spezifische Gestaltung des Gesichts als Bewältigungsstrategie kultureller Ängste um die privilegierte Position des Menschen lesbar machen. Projekt 2 untersucht neo-viktorianische Comics auf die hier kritisch beleuchteten visuellen Basistechniken der Wissensproduktion, Typenbildung und Menschen-Klassifikation. Ganz ähnlich wie der phantastische Modus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und oft unter Rückgriff auf dieselben Themenstellungen und Motive, artikulieren die untersuchten Comics Kritik an der Art und Weise, wie bestimmte visuelle Ordnungsschemata zur Konstitution diskursiver Subjekte beitragen. Die Dissertation analysiert die metahistorische Auseinandersetzung mit viktorianischen Wertstellungen, Medientechniken und Wahrnehmungsweisen als selbstreflexives kritisches Projekt und blickt dabei in ihrer Analyse von Subjektivität unter den Bedingungen anthropologischer Neubestimmungen besonders auf die Aspekte Visualität, Medialität und Temporalität. Häufig kommt es in den untersuchten Comics zu offenen Aushandlungen des medialen Dispositivs, innerhalb dessen Adaptionsund Transformationsprozesse stattfinden, kulturelle Medialisierungs- und Repräsentationsbestrebungen werden kritisch hervorgehoben: In Grant Morrison und Steve Yeowells Sebastian O. etwa wird Königin Victoria nach ihrem Ableben durch eine virtuelle Computersimulation ersetzt – ein intermedialer Verweis auf die Medienpräsenz der historischen Königin wie auch auf die medialen Möglichkeiten und die durch sie ausgelösten Ängste in unseren Gegenwartskulturen. Grundanliegen beider Projekte ist es, die kulturelle, besonders die kulturkritische Arbeit der jeweils untersuchten ‚Texte‘ sichtbar zu machen und dabei besonders die Interaktion der diskursiven Grundlagen (Blickregime und wissenschaftliche Taxonomien) mit den ästhetischen Produktionsverfahren (Wirklichkeitsabbildung, Serialität, Adaptation) hervorzuheben.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- “Kreativität im Korsett: Nostalgie und Konsumideologie im Fernsehdrama The Paradise.” In: M. Allen und R. Knepel (Hg.), Poetik und Poesie der Werbung: Ästhetik und Literarizität an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz (Konsumästhetik Vol. 2). Bielefeld: Transcript 2017, 53-68
Natalie Veith
(Siehe online unter https://doi.org/10.14361/9783839438268-004) - “The (Neo-)Victorian Rhetoric of Representation and the End of Referentiality in Sebastian O.” In: . B. Dolle- Weinkauff (Hg.), Geschichte im Comic. Berlin: Bachman 2017, 107- 118
Natalie Veith
- More than human? Dracula’s Monstrosity. In: Birgit Spengler und Babette B. Tischleder (Hg.), An Eclectic Bestiary. Encounters in a More-than-Human World. Bielefeld: transcript 2019, 277-290
Susanne Scholz
(Siehe online unter https://doi.org/10.14361/9783839445662-021) - “‘Remarkable, the view here, isn't it?’: Totalising Views and Diverted Gazes in The League of Extraordinary Gentlemen.” In: C. Flotmann und A. Lienen (Hg.), Victorian Ideologies in Contemporary British Cultures (Reihe: Anglistik & Englischunterricht Vol. 90). Heidelberg: Winter 2019, 91-112
Natalie Veith
- A Tale of Two Faces. Melodramatizing Jekyll and Hyde. In: Ina Habermann und Christian Krug (Hg.), And Thereby Hangs a Tale
Susanne Scholz
(Siehe online unter https://doi.org/10.25593/978-3-96147-343-4) - “Othering Voices and the Voice of the Other: The Depiction of Joseph Merrick in From Hell.” In: V. Sina und N. Heindl (Hg.), Spaces Between – Gender, Diversity, and Identity in Comics. Heidelberg: Springer
Natalie Veith
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-30116-3_7)