Detailseite
Projekt Druckansicht

Technologien des Singens. Untersuchungen zum Dispositiv Singen - Körper - Medien in der Frühzeit der Tonaufnahme

Fachliche Zuordnung Musikwissenschaften
Akustik
Förderung Förderung von 2016 bis 2022
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 289601849
 
Erstellungsjahr 2022

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Ausgangspunkt des Forschungsprojekts ist, die Geschichte des Singens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Körper- und Mediengeschichte zu schreiben. Im Mittelpunkt steht das in dieser Zeit entwickelte Medium der Tonaufnahme, deren Medialität selbst zum Gegenstand gemacht wird: Anstatt Phonographen- und Grammophonaufnahmen als unmittelbare Dokumente der historischen Musikpraxis auszuwerten, werden sie als materielle Quellen für eine durch die Bedingungen des Mediums geprägte Ästhetik aufgefasst, die mit der Praxis des Singens und der Geschichte des Körpers untrennbar verbunden ist. Dieser Ansatz wurde interdisziplinär in vier Arbeitspaketen verfolgt. Die Forschungen zu Arbeitspaket 1, »Sänger*innen-Karrieren als Medienkarrieren«, belegen anhand von Fallbeispielen (Luisa Tetrazzini, Nellie Melba und Enrico Caruso), in welchem Maße Laufbahnen, Repertoires und künstlerische Profile von dem neuen Medium geprägt wurden – ein Aspekt, der in der Biografik zu Sänger*innen im Bereich der ›klassischen‹ Musik oft zugunsten der Bühnen- und Konzerttätigkeit vernachlässigt wurde. Die Nutzung von Technik wird im Sänger*innen-Diskurs vielmehr meist als Merkmal der populären Musik gesehen, was sich später auch an ikonographischen Quellen zur Verwendung von (Rundfunk-)Mikrofonen zeigt. Die aus den Erkenntnissen resultierende Forderung, Sänger*innen-Biografien als Medienbiografien zu schreiben, wäre auf Fallbeispiele anderer Epochen zu übertragen. Um zu verstehen, wie sich die Eigenschaften der historischen Aufnahmegeräte auf die Stimmsignale und diese sich wiederum auf die Aufnahmetechnik auswirkten, wurde in Arbeitspaket 2, »Technik und Ästhetik der Gesangsaufnahme«, der Schallübertragungsweg von Sänger*in zu Aufnahmemedium und von dort zu den Ausführenden zurück bzw. zu den Hörenden analysiert und modelliert. Genaue Untersuchungen der Komponenten historischer Aufnahmegeräte ermöglichten es, Repliken von Aufnahmehörnen und - dosen anzufertigen. Eine besondere Herausforderung stellte die Rekonstruktion einer Schalldose dar, die auf der Basis aufwändiger Messverfahren zu den historisch genutzten Materialien in Kooperation mit der Werkstatt der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe in Lemgo sowie dem Deutschen Bergbaumuseum Bochum gelang. Dadurch wurden Analysen der gesamten Aufnahme- und Wiedergabekette möglich, durch die anhand von Frequenzgangsveränderungen beim Aufnahme- und Wiedergabeprozess den Gliedern zugeordnet werden und sowohl die Bandbeschränkungen historischer Aufnahme- und Wiedergabegeräte als auch bspw. Formantverschiebungen sowie die Verstärkung und Verdopplung des Vibratos von Sänger*innen erklärt werden konnten. Gegenstand von Arbeitspaket 3, »Quellen und Dokumente zur Ästhetik der Gesangsaufnahme«, waren die medienästhetischen Prämissen von Tonaufnahmen. Hierfür wurden verbale Quellen aus dem Umfeld der Medienproduktion analysiert. Hier ließ sich u. a. zeigen, dass die bedeutenden Plattenfirmen Edison Inc. und RCA Victor spezifische Tonaufnahmephilosophien entwickelten: Während Edison nur solche Sänger*innen zu Masteraufnahmen zuließ, die seinem (technisch basierten) Ideal nahekamen, wurde bei Victor durch Austausch von klangprägenden Bauteilen der Geräte auf das Ergebnis Einfluss genommen. Die Singstimme, wie sie auf dem Medium Tonaufnahme erscheint, wird also in vielfältigem Zusammenwirken von Menschen und von Aufnahmetechnik entwickelt. In Arbeitspaket 4, »Gesangstechnik im Körper- und Mediendiskurs«, wurden gesangspädagogische Schriften der Zeit um 1900 analysiert. Hier zeigte sich, in welchem Maße im Gesangsdiskurs dieser Zeit mit sprachlichen Motiven, Wissenselementen, Metaphern, Symbolen usw. Körper konstruiert wurden. Insbesondere die Diskursmotive Natur und Technik verweisen auf ein mechanistisches Körperkonzept, von dem aus sich Bezüge zur Thematik der Tonaufnahme herstellen lassen. Ergänzt wurden diese diskursanalytischen Studien durch Untersuchungen zum tatsächlichen Stimmgebrauch, insbesondere zu den aus heutiger Sicht besonders auffälligen Aspekten von Gesangsaufnahmen aus der Frühzeit der Tonaufnahme, die auch in den Gesangsschulen immer wieder thematisiert werden: Vibrato, Ornamentik, Glissando, Tempo und Register. Eine der Antragstellerinnen konnte in einem folgenden DFG-Projekt eine weitergehende Fragestellung bearbeiten.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

Zusatzinformationen

Textvergrößerung und Kontrastanpassung