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Die Vergesellschaftung der Demenz: Wohlfahrtsstaatliche und kulturelle Einflussfaktoren auf das Leben mit Altersdemenz in neuen Formen gemeinwesenorientierter Sorgekonstellationen

Antragsteller Dr. Mike Laufenberg
Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2016 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 289753230
 
Erstellungsjahr 2020

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Forschungsprojekt trägt mit seinen Ergebnissen zum besseren soziologischen Verständnis von zwei Problemkomplexen bei: Kulturelle Demenzmodelle und soziale Praxis: Es stellte sich heraus, wie massiv das kulturelle Verständnis von Demenz die soziale Interaktion mit den Betroffenen und damit auch die Form und Praxis der Sorgekonstellationen beeinflusst. Die hierzu erhobenen Daten aus Leitfadeninterviews, Dokumentenanalyse und teilnehmenden Beobachtungen wurden drei verschiedenen Demenzmodellen zugeordnet: dem medizinischen, dem sozialgerontologischen und dem citizenship-orientierten Modell. Wo das medizinische Modell weitgehend defizitär ausgerichtet ist und einer Versorgungslogik und einem Subjekt-Objekt-Denken verhaftet bleibt, orientiert sich das sozialgerontologische Modell an Intersubjektvität und einem Eigensinn der Demenz. In beiden Modellen werden Menschen mit Demenz allerdings fast ausschließlich auf ihre Rolle als Fürsorgebedürftige reduziert. Demgegenüber betrachtet das Citizenship-Modell, welches in bürgerrechtlich orientierten Konzepten von "demenzfreundlichen Kommunen" ausgeprägt ist, Menschen mit Demenz als Bürger*innen mit (sozialen, politischen und zivilen) Rechten auf soziale Teilhabe und Mitbestimmung. In den untersuchten Fällen dominiert das medizinische und das sozialgerontologische Modell die Sorge- und Unterstützungsarrangements deutlich, während das citizenshiporientierte Modell zwar einen Referenzrahmen bildet, doch hierbei überwiegend rhetorisch bleibt, d.h. die Praxiswirksamkeit dieses Modells ist nur schwach ausgeprägt. So lässt sich zwar einerseits eine weitgehende Sensibilisierung für Formen der Stigmatisierung und Exklusion von Menschen mit Demenz feststellen, denen man entgegen zu arbeiten sucht; andererseits werden Stigmatisierung und Exklusion begünstigende Praktiken der Passivierung und Bevormundung in massiver Weise reproduziert und Wege der Partizipation und Mitbestimmung von Menschen mit Demenz untergraben. Gemeinwesenbasierte Sorgekonstellationen im Strukturwandel des Wohlfahrtsstaates: Das Forschungsprojekt zeigt, inwiefern die in den 1980er Jahren einsetzende apokalyptische Krisenrhetorik hinsichtlich der Demenz derzeit auf politischer Ebene einem neuen Optimismus des Machbaren weicht: Der demografische Wandel und die mit ihm einhergehenden Herausforderungen für den Sozialstaat werden vermehrt als Chance gerahmt, den Wohlfahrtsstaat zu erneuern. So nimmt der Appell an eine geteilte gesellschaftliche Verantwortung und an die Verwirklichung der Idee eines fürsorglichen Gemeinwesens eine herausragende Stellung in der Entwicklung einer nationalen Demenzstrategie ein. Um Menschen mit kognitiven Veränderungen eine umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, sei Unterstützung durch nachbarschaftliche Hilfe gefragt; neue Formen des Miteinanders müssten entwickelt und bürgerschaftliches/ehrenamtliches Engagement weiter ausgebaut werden. In den Sozialwissenschaften wird diese Entwicklung derzeit vermehrt kritisch als sozialstaatliche Indienstnahme zivilgesellschaftlichen Engagements diskutiert. Die Akteur*innen im untersuchten Feld nehmen diese Entwicklung ebenfalls vielfach als problematisch war, sehen jedoch zugleich Chancen und emanzipatorische Potenziale im Ausbau zivilgesellschaftlicher Unterstützungsund Sorgekonstellationen. So sei der von ihnen verfolgte Leitgedanke von Partizipation und Inklusion von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in den staatlich-administrativ verantworteten Programmen kaum noch erkennbar. Vielmehr würde eine „Demenzparallelwelt" errichtet, die dem klassischen Versorgungsmodell verhaftet bliebe. Das Forschungsprojekt zeigt wiederum, dass der gemeinschaftsaffirmierende institutionenkritische Ansatz seinerseits durch Verkürzungen geprägt ist, die in eine Idealisierung bürgerschaftlicher Sorgekonstellationen münden. Die Aufgabe, die sich das Forschungsprojekt stellte, war diesen Dualismus von gemeinschaftskritischen und institutionenkritischen Ansätzen durch einen empirisch informierten theoretischen Rahmen zu überwinden, der die Verschränkungen von Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsprozessen in der sozialen Organisation und im Wandel von Sorge- und Unterstützungsarrangements für Menschen mit Demenz fassbar macht. Die Befunde des Projekts werden hiernach als Indizien für einen allgemeineren Struktur- und Formwandel von sozialer Sicherheit und fürsorglicher Solidarität in der Gegenwart gesehen, der durch eine Neukonfiguration der Beziehungen zwischen Individuen, Gemeinschaft und Staat geprägt ist. In diesem Prozess kommt es nicht zur Erosion, sondern zu Umgestaltungen des Gefüges, über das individuelle Risiken in soziale Risiken umgewandelt werden. Hiermit sind viele Probleme, Ungleichheitseffekte und Einschränkungen verknüpft, aber auch neue Möglichkeiten und Chancen, denen jeweils in Folgeuntersuchungen vertiefend nachzugehen wäre.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Sorgende Gemeinschaften? ‚Demenzfreundliche Kommunen’ zwischen sozialstaatlichem Sparmodel und Emanzipationsgewinn. In: sub/urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 6 (1), 2018, S. 77-96
    Mike Laufenberg
    (Siehe online unter https://doi.org/10.36900/suburban.v6i1.339)
  • Von der Patientin zur Bürgerin. Demenz aus Citizenship-Perspektive. In: M. Schmidhuber, A. Frewer, S. Klotz und H. Bielefeld (Hg.): Menschenrechte für Personen mit Demenz. Soziale und ethische Perspektiven. Bd. 7 der Reihe Menschenrechte in der Medizin, Bielefeld 2019, S. 223-240
    Mike Laufenberg
    (Siehe online unter https://doi.org/10.14361/9783839444955-011)
 
 

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