Integration und Urbanität in Wolfsburg nach der radikalen Umorientierung der Stadtentwicklungspolitik in Richtung Erlebnisstadt
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Stadt als Erlebnis: Die vierte soziologische Untersuchung der Stadtentwicklung Wolfsburgs stellt die stadtkulturellen Folgen erlebnisorientierter Großprojekte in den Mittelpunkt. Die Stadtentwicklungspolitik im Betrachtungszeitraum (1998 – 2008) war geprägt durch das Ziel einer Steigerung der kommunalen Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit in Bezug auf externe Akteure wie Investoren, zukunftsorientierte Unternehmen, hochqualifizierte Arbeitskräfte wie auch Touristinnen und Touristen. Sichtbarstes Zeichen war die Errichtung einer erheblichen Anzahl erlebnisorientierter Großprojekte (Autostadt, Phaeno, Badeland, Allerpark, City Galerie, Volkswagen Arena etc.). Deren Folgen für die drei sich durch die gesamte Wolfsburg-Forschung ziehenden stadtkulturellen Themen der gemeindlichen Integration, der städtischen Urbanität und der lokalen Demokratie zu untersuchen, war Ziel der Studie. Die in der Fachliteratur geäußerte Befürchtung, die gemeindliche Integration würde durch Großprojekte beeinträchtigt, hat sich für Wolfsburg nicht bestätigt. Die Projekte genießen beim Großteil der Bewohnerschaft eine hohe Akzeptanz und wurden weitgehend in ihr nichtalltägliches Freizeitverhalten aufgenommen. Selbst den Projekten, die nur für Minderheiten interessant sind, wird allgemein eine positive Wirkung für die Stadt (besseres Image, mehr Stolz der Bewohner) zugeschrieben. Durch die Großprojekte konnten vormals nicht vorhandene Angebote für die sich in den letzten Jahren differenzierende Sozialstruktur, besonders die gehobeneren Schichten, gemacht werden, ohne dass die anderen merklich darunter leiden. Positive Wirkungen für das urbane Flair sind dagegen nicht im erhofften Umfang eingetreten: Wolfsburg ist zwar ‚urbaner’, d. h. vielfältiger, bunter und etwas anonymer geworden, stellt sich aber weder aus Bewohner- und Besucher-, noch aus Expertensicht als ‚urbane Stadt’ dar. Es gibt jetzt Orte in der Stadt, wo auch mal Nicht-Wolfsburger auftauchen und eine gewisse Bevölkerungsheterogenität sichtbar wird, aber insbesondere die Fußgängerzone zeigt kaum mehr ‚urbanes Flair’ als vorher und die erlebnisorientierten Großprojekte haben kaum Ausstrahlungseffekte. Obwohl die Mehrzahl der Großprojekte innenstadtnah liegt, besuchen die Touristen kaum die Innenstadt, die gegenüber der Erlebnisqualität in den Großprojekten eher noch kleinstädtischer und reizloser wirkt. Es scheint eher umgekehrt zu einer Verlagerung des Stadtzentrums in Richtung der Großprojekte um Autostadt, Phaeno und Bahnhof zu kommen. Für die lokale Demokratie sind Phasen der Planung und Errichtung von Großprojekten bekanntermaßen eher abträglich, was sich auch für Wolfsburg bestätigt: Die Bewohnerschaft wurde nicht beteiligt und auch der Rat wurde in vielen Fällen ‚Akklamationsorgan’ für eine ‚Koalition der Macher’. In Wolfsburg wurden diesbezügliche Befürchtungen noch dadurch verstärkt, dass mit der Public Private Partnership von Stadt und Volkswagen (‚Wolfsburg AG’) und deren Plänen die gesamte Stadt zu einer ‚Erlebniswelt’ zu machen, der beherrschende Einfluss von VW auf die Stadtpolitik gleichsam institutionalisiert wurde. Dies hat sich alles in allem nicht bestätigt. Das Interesse von Volkswagen an Stadtentwicklung im engeren Sinne ebbte sehr schnell ab bzw. konzentriert sich allenfalls noch auf den Bereich rund um die Autostadt. Wolfsburg hat in der vergangenen Dekade insgesamt einen erheblichen Entwicklungssprung gemacht, der sich vor allem in einer Differenzierung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt, einer Angebotsausweitung im Freizeit- und Kulturbereich und in einer Attraktivitätssteigerung für den Städtetourismus zeigt. Es ist aber (noch) nicht gelungen, die ‚Urbanitätdefizite’ der jungen Stadt auszugleichen. Wolfsburgs Attraktivität als Wohnort konnte nicht sonderlich von den Anstrengungen profitieren: Obgleich in den letzten zehn Jahren mehr als 20.000 Arbeitsplätze geschaffen worden sind, sank die Einwohnerzahl weiter. Stadt als lokaler Lebenszusammenhang: Ziel der Studie war eine kritische Bilanzierung von deutsch- und englischsprachigen gemeindesoziologischen Studien über Städte. Den Hintergrund bildeten vier eigene Untersuchungen der neuen Stadt Wolfsburg in einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren. Auf der Basis einer Inhaltsanalyse gemeindesoziologischer Stadtstudien sowie Expertengesprächen mit ausgewiesenen Personen der Stadtsoziologie wurde den Begrenzungen und Potenzialen des Gemeindestudien-Ansatzes nachgegangen und untersucht, welchen Beitrag die Studien zum Verständnis der Stadt als einem lokalen Lebenszusammenhang leisten und vor diesem Hintergrund erörtert, wie der gemeindesoziologische Forschungsansatz zukünftig entwickelt werden könnte. Die systematische Analyse hat ergeben, dass gemeindesoziologische Stadtstudien alles in allem besser sind als ihr (früherer) Ruf und die Kritikpunkte – Gemeindestudien seien zu holistisch, zu theorieschwach, zu integrationistisch, zu kleinstädtisch und ihre Befunde ohnehin nicht verallgemeinerbar – in Teilen nicht in der vorgetragenen Schärfe gerechtfertigt sind. Mit dem Paradigmenwechsel bzw. der Pluralisierung der Forschungsansätze in der Stadtsoziologie scheint sich ein Gutteil der Kritik erledigt zu haben. Auch die wachsende Bedeutung qualitativer Ansätze in der Soziologie scheint dazu geführt haben, dass gemeindesoziologische Stadtstudien heute weitgehend akzeptiert sind. Selbst frühere Kritiker des Gemeindestudien-Ansatzes urteilen heute freundlicher. Das Potenzial gemeindesoziologischer Stadtstudien, ihre Gegenstandsnähe, die Originalität des Einzelfalls, die große Tiefenschärfe, die Konkretheit und Anschaulichkeit der Untersuchung, die ein tieferes Verständnis über ein allgemeines Phänomen ermöglichen und zu neuen Hypothesen anregen können, wird heute in der Stadtforschung weithin gewürdigt. Allerdings gibt es auch gewichtige Einwände: Sozialräumliche Faktoren, die Beziehung von sozialen und räumlichen Gegebenheiten in der Stadt werden in den Studien nur randständig behandelt. Zudem bleiben sie meist klein- oder allenfalls mittelstadtfokussiert, was manche Experten geradezu als Wesens- und Definitionsmerkmal von Gemeindestudien bezeichnen. Man mag darin ein notwendiges Korrektiv zur ‚Großstadtlastigkeit’ der sonstigen Stadtsoziologie in Deutschland sehen, aber u. E. liegt darin schon ein gravierende Beschränkung des Ansatzes, der in Bezug auf Großstädte offenbar nur als Stadtteil- bzw. Milieustudie anwendbar erscheint. Ein weiterer Kritikpunkt liegt u. E. darin, dass gemeindesoziologische Stadtstudien stark oder gar rein ‚paradigmatisch’ angelegt sind, also bestimmte gesellschaftliche Fragestellungen lediglich ‚am Beispiel’ einer (vermeintlich) typischen oder markanten Stadt untersuchen, wohingegen hier gefordert wird, der städtischen Eigenart in Zukunft insoweit mehr Rechnung zu tragen, indem man untersucht, wie eine bestimmte Eigenart einer Stadt (Hafenstadt, Kurort, Universitätsstadt) sich auf den lokalen Lebenszusammenhang auswirkt. Ein solcher Ansatz wäre dann u.E. auch großstadttauglicher, als er den auf grosstädtischer Ebene gänzlich uneinlösbaren Komplexitätsanspruch von Gemeindestudien themenfokussierter relativiert, aber die gesamtstädtische Ebene gewahrt bleibt. Der gemeindesoziologische Forschungsansatz ist, so das Fazit, ein wichtiger Ansatz neben anderen im Kanon der Stadtsoziologie und bietet durchaus weitere Entwicklungsperspektiven.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- 2010: Stadt als Erlebnis: Wolfsburg. Zur stadtkulturellen Bedeutung von Großprojekten, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften
Annette Harth, Ulfert Herlyn, Gitta Scheller, Wulf Tessin
- 2011: Wolfsburg als Erlebnis? Stadterneuerung als Urbanitätsentwicklung. In: Altrock, Uwe/Kunze, Ronald/Schmitt, Gisela/Schubert, Dirk (Hg.): Jahrbuch Stadterneuerung 2011. Stadterneuerung und Festivalisierung, Berlin 2011, S. 63-79
Annette Harth, Gitta Scheller