Structural Conditions of Justice Attitudes over the Lifespan
Final Report Abstract
Moderne Gesellschaften sehen sich mit strukturell unausweichlichen Ungleichheiten konfrontiert. Die Legitimität bestehender Ungleichheiten wird dabei häufig durch den Abgleich mit Gerechtigkeitsvorstellungen geprüft. Die soziologische Gerechtigkeitsforschung rückt, die in einer Gruppe oder Gesellschaft vorherrschende subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen in den Fokus. Dabei ist die Frage danach welche Ungleichheiten, unter welchen Umständen, von wem als gerecht oder ungerecht bewertet werden keine rein akademische Fragestellung, sondern stellt eine wichtige theoretische und empirische Verbindung zwischen gesellschaftlichen Ungleichheiten und ihren Konsequenzen für Politik, Arbeitsleben und Gesundheit her. Das Projekt zielt darauf ab, auf der Grundlage eines handlungstheoretisch begründeten, soziologischen Erklärungsansatzes die zentralen Desiderata bisheriger einstellungsanalytischer Gerechtigkeitsforschung zu bearbeiten und diese für die neueren Debatten in der Ungleichheitsforschung fruchtbar zu machen. In drei aufeinander bezogenen Forschungslinien wurde untersucht, wie die strukturellen Bedingungen der sozialen Kontexte, in denen Individuen eingebunden sind, ihre Gerechtigkeitseinstellungen beeinflussen und welche Mechanismen der Einstellungsbildung dabei wirksam werden. Im Mittepunkt stehen dabei: (1) ergebnisbezogene, (2) ordnungsbezogene und (3) verfahrensbezogene Gerechtigkeitseinstellungen. Im Unterschied zu der bisher in der Forschung üblichen querschnittlichen Betrachtung von Gerechtigkeitseinstellungen wurde ein längsschnittlicher Ansatz gewählt. Entsprechend ist die erneute Befragung von erwerbstätigen Personen, die im Jahr 2012/13 zum ersten Mal befragt wurden, zentraler Bestandteil des Projekts. In dieser zweiten Welle des LINOS-Panels (kurz: LINOS-2) wurden Anfang 2017 über 2700 Personen erneut erfolgreich befragt. Im Anschluss wurden die LINOS-2 Daten im Rahmen des Projektes aufgearbeitet und umfangreich dokumentiert. Datenzugang für Sekundärnutzer für die erste und zweite Welle der Befragung wird über eine vor Ort Nutzung am FDZ-BO am DIW Berlin langfristig sichergestellt. Die LINOS-2 Befragungsdaten sind mit administrativen Daten der Bundesagentur für Arbeit verknüpfbar und methodische Begleitforschung im Rahmen des Projektes konnte unter Anderem zeigen, dass Ergebnisse der Verknüpfung nicht durch selektives Zustimmungsverhalten verzerrt sind und dass die Verknüpfung von Survey- und administrativen Daten auch qualitätssichernd eingesetzt werden kann. Mit Bezug auf ergebnisbezogene Gerechtigkeitseinstellungen unterstreichen die Projektergebnisse, dass Vergleiche z.B. mit Arbeitskollegen, mit der Berufsgruppe, mit dem Partner, aber auch abstraktere Vergleiche mit regionalen Einkommensdurchschnitten, strukturell vermitteltet sind und die Bewertung des eigenen Einkommens beeinflussen. Dieser Zusammenhang wird durch die individuelle Vergleichsdisposition moderiert. Eine im Projekt entwickelte Fragenbatterie zur subjektiven Bewertung der Einkommensverteilung zeigt außerdem: In Deutschland werden Einkommensungleichheiten nicht per se als ungerecht bewertet, aber gerade am unteren Ende der Einkommensverteilung wird deutliche Ungerechtigkeit identifiziert. Bewerten Befragte die Einkommen anderer in einem faktoriellen Survey, zeigt sich ein deutlicher Gender-Bias: Geringere Einkommen werden für Frauen eher als gerecht bewertet. Im Längsschnitt kann der Kontakt mit weiblichen Führungskräften diese geschlechterstereotypen Vorstellungen abbauen. Mit Bezug auf die Forschungslinie „verfahrensbezogene Gerechtigkeitseinstellungen“ unterstreichen die Ergebnisse damit die besondere Bedeutung von Stereotypisierungen bei der Generierung von Ungleichheit. Weitere Analysen unterstreichen außerdem die Rolle prozeduraler Gerechtigkeit am Arbeitsplatz. Starke Regulierung wirkt sich dann positiv aus, wenn es an sozialem Zusammenhalt fehlt. Wird das Verhalten des Vorgesetzen als ungerecht bewertet, wirkt sich eine starke Regulierung des Arbeitsalltags negativ auf die Befragten aus. Um die dritte Forschungslinie – Stabilität bzw. Veränderung von ordnungsbezogenen Gerechtigkeitseinstellungen über den Lebensverlauf – zu untersuchen wurde zunächst die Basic Social Justice Orientation Scale (kurz BSJO) validiert. Diese erfasst die Präferenz für die vier Verteilungsprinzipien Leistung, Anrecht, Gleichheit und Bedarf. In Deutschland finden die Prinzipien Leistung und Bedarf dabei besonders breite Zustimmung. Erste Analysen zur Stabilität bzw. Veränderungen zeigen einen Zuwachs bei den egalitären Präferenzen (Gleichheit und Bedarf) und einen Rückgang bei den inegalitären Präferenzen (Leistung und Anrecht). Intraindividuelle Veränderungen zeigen sich vor allem bei jüngeren Befragten und Personen mit deutlichen Einkommensverlusten. Detaillierte Analysen zu Veränderungsprozessen über den Lebensverlauf werden mit Hilfe einer geplanten dritten Datenerhebung angestrebt. Theoretisch und empirisch fundierte Projektergebnisse wurden stets sowohl in referierten Fachzeitschriften als auch in auf den Wissenstransfer ausgerichteten Formaten publiziert. Gerade letztere erzeugten ein großes Medienecho. Neben diesem Beitrag zur wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte über die Ursachen sozialer Ungleichheit und deren Legitimität, stellt das Projekt einen einzigartigen Längsschnittdatensatzes für die empirischen Gerechtigkeitsforschung zur Verfügung. Dieser Beitrag wird untermauert durch die (Weiter-)Entwicklung geeigneter Verfahren zur Messung von Gerechtigkeitseinstellungen und davon ausgehenden Impulsen für die Sozialberichterstattung in Deutschland (zum Beispiel im Rahmen der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung) sowie die ländervergleichenden Surveyforschung (European Social Survey Round 9).
Publications
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