Mediale Störungen. Strukturen und Funktionen von Fernsehsondersendungen in der politischen Medienkultur Deutschlands.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
3.1 Im Projekt wurde das gesamte Sondersendungsaufkommen der öffentlich-rechtlichen Anbieter in einem zweijährigen Untersuchungszeitraum erfasst. Die Sendungen wurden gesichtet, beschrieben und analysiert. Es wurde systematisch die Struktur und Dramaturgie sowohl der Sendungsformate als auch der Bestandteile rekonstruiert. Es gelang, die wichtigsten Berichtsthemen im Untersuchungszeitraum zu identifizieren sowie die konstitutiven Gestaltungs- und Bearbeitungsweisen zu analysieren. Eine wichtige Erkenntnis besteht darin, dass über die Sender hinweg eine weitgehend gleichschrittige Programmierung der Sonderformate aufgrund ähnlicher Beurteilung der Nachrichtenwerte festgestellt werden konnte. Auch die Verwendung von medienästhetischen Gestaltungsmitteln weist eine große Gleichförmigkeit auf. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Sendungen meist unter großem Zeitdruck heikle Situationen zu verarbeiten haben, was nur gelingen kann, wenn professionelle Routinen journalistischen Handelns zur Anwendung kommen. Die teilweise sehr ausführlichen Interviews mit Redakteuren haben in diese Prozesse präzise Einblicke ermöglicht. Insgesamt gewann das Projekt umfangreiche Erkenntnisse nicht nur über redaktionelle Arbeitsprozesse sowie über die Entscheidungskriterien für die Programmierung von Sondersendungen im öffentlichen-rechtlichen Fernsehen. Durch die Interviews war es auch möglich detailliert zu rekonstruieren, welche Perspektiven und Selbstverständnisse die an Sondersendungen beteiligten Akteure haben und ihrem Handeln zugrunde legen. Für Redakteure und Moderatoren als Medienakteure einerseits, für Experten und Politiker als jeweils dazu geladene Akteure andererseits konnten idealtypisch spezifische Rollen und selbstdefinierte Aufgaben rekonstruiert werden. Sondersendungen, so zeigen die Interviews, sind ein Prestigeformat im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und eine wichtige Institution der politischen Medienöffentlichkeit Deutschlands. Sie werden als solche auch von den auftretenden Akteuren anerkannt. Sie sind reichweitenstarke Bühnen des öffentlichen Diskurses zu krisenhaften Situationen. Die auftretenden bzw. auf der Hinterbühne verantwortlichen Akteure nutzen die Formate jeweils, um im Sinne ihrer jeweiligen Handlungslogiken Krisenkommunikation zu betreiben und eine erste öffentliche Deutungshoheit zu den Ereignissen zu erlangen. Als Flaggschiffe der Berichterstattung zeigen die Sondersendungen einerseits die nach wie vor gegebene Relevanz der öffentlich-rechtlichen Sender mit einer nicht unerheblichen Definitionsmacht hinsichtlich relevanter gesellschaftlicher Störungen und ihr Potenzial als ritualisierte Institution der Störungsbearbeitung mit Aspekten der Beruhigung, Tröstung und Vergemeinschaftung. Gleichzeitig werden, vor allem in der Berichterstattung zur Flüchtlingskrise, Probleme des öffentlich-rechtlichen Journalismus erkennbar, wenn er als Meinungsjournalismus zur Vertrauenskrise der etablierten Medien in der Gegenwart beiträgt. Als überraschend problematisch stellte sich die Sicherung von Hauptnachrichtensendungen (als Vergleichsgruppe) sowie teilweise von ZDF spezial-Sendungen dar. Die Hauptnachrichtensendungen konnten im Nachgang nur noch teilweise gesichert werden. Das Sample der ZDF spezial-Sendungen blieb deshalb bei nur 89%. Ein weiterer unerwarteter Umstand bestand in der großen Bandbreite und auch Anzahl von Sendungen im Untersuchungszeitraum, die von sowohl öffentlich-rechtlichen wie auch privaten Sendern als Sonderformate gelabelt werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2018): Die ethnografisch eingebettete Medienanalyse als interdisziplinäre Forschungspraxis. In: Moritz, Christine/Corsten, Michael (Hrsg.): Handbuch Qualitative Videoanalyse. Wiesbaden: Springer VS. S. 37-53
Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera
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(2018): Krisenkommunikation in TV-Sondersendungen. Zum Auftreten politischer Akteure in „Brennpunkt“ und „ZDF spezial“. In: Bentele, Günter/Piwinger, Manfred/Schönborn, Gregor (Hrsg.): Kommunikationsmanagement. Strategien, Wissen, Lösungen (Loseblattwerk), Neuwied: Luchterhand 2001 ff., November 2018. S. 1-43
Vogt, Ludgera
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(2019): Der aktuelle Strukturwandel der Öffentlichkeit und seine Folgen. Rezo als Symptom. In: Bentele, Günter/Piwinger, Manfred/Schönborn, Gregor (Hrsg.): Kommunikationsmanagement. Strategien, Wissen, Lösungen (Loseblattwerk), Neuwied: Luchterhand 2001 ff., November 2019, S. 1-39
Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera
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(2019): Politische Krisenkommunikation. Welche Rollen nehmen Politiker in TV-Sondersendungen ein? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 50 (2019), Heft 2, S. 411-433
Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera
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(2020): Ästhetik und Entstörung: Über die Funktion von Gestaltungsmitteln in Sondersendungen des deutschen Fernsehens. In: Hitzler, Ronald/Reichertz, Jo/Schroer, Norbert (Hrsg.): Kritik der Hermeneutischen Wissenssoziologie. Weinheim: Beltz Juventa, S. 444-458
Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera