Gesten und Gebärden in den Bildwerken der minoischen Kultur
Ur- und Frühgeschichte (weltweit)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das vielfältige Repertoire an Gesten und Gebärden auf Siegel- und Wandbildern, Gefäßen, larnakes, Statuen, Statuetten und figürlichem Schmuck aus dem mittel- bis spätbronzezeitlichen Kreta sowie von den in der frühen Spätbronzezeit unter dessen kulturellem Einfluss stehenden Inseln (Thera, Melos, Keos, Rhodos) vermittelt ein breites Spektrum kommunikativer Handlungen und äußerlich gezeigter, innerer Zustände. Das Erkenntnispotenzial der Armhaltungen blieb in der Forschung jedoch bislang weitgehend ungenutzt. Ziel des Projekts war es daher, erstmals alle zweidimensionalen und dreidimensionalen Darstellungen zu erfassen, die Kombinationen der Armhaltungen systematisch zu ordnen und so ihren bronzezeitlichen Gebrauch im jeweiligen Kontext zu rekonstruieren und zu interpretieren. Unter Berücksichtigung von Kopf- und Körperhaltung, Identitätsmerkmalen (Geschlecht, Gewand, Frisur, Schmuck), Darstellungs¬kontext (Bildkomposition bzw. aussagekräftiger Fundkontext), Bildträger und zeitlicher Einordnung wurden verschiedene Aspekte des bronzezeitlichen Gebrauchs jeder Gestenkombination herausgearbeitet. Auf Grundlage der daraus erkennbaren Muster und unter Einbeziehung kommunikationswissenschaftlicher, psychologischer und kunsthistorischer Studien zur Körpersprache erfolgte anschließend die Interpretation der Gestencluster. Die systematische Analyse der Armkombinationen und Darstellungskonventionen lieferte neue Impulse für altbekannte Debatten etwa zur Frage der Orientierung des berühmten 'Lilienprinzen' oder zur Rekonstruktion des Darstellungskontexts der sog. "Dancing Lady", beide aus Knossos. Besonders jedoch führte die Untersuchung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Gestentypen in ihrem jeweiligen Kontext zu überraschenden Erkenntnissen: So ließ sich die ursprüngliche Verwendung einer signifikanten Anzahl autotaktiler, grundsätzlich als Selbstberuhigungsgesten einzustufender Armhaltungen zunächst in Bestattungskontexten, bald darauf in Kultkontexten der mittelminoischen Höhenheiligtümer feststellen, bevor sie in der fortgeschrittenen spätminoischen Zeit erneut Eingang in Grabkontexte fanden. Während die Armhaltungen in der Forschung üblicherweise als Adorationsgesten interpretiert werden, deutet dieser rote Faden darauf hin, dass sie vielmehr Verhaltens- bzw. Ausdrucksformen repräsentierten, die ein Verhalten gegenüber Verstorbenen markierten. Die Verwendung derselben Gesten an Statuetten in Höhenheiligtümern (und in der spätminoischen Zeit auch in Kulthöhlen) legt eine Grundkonzeption des in diesen Heiligtümern verorteten Kultes nahe, die mit den in der Forschung dominierenden ekstatischen und visionären Praktiken wenig gemein hat und vielmehr in Richtung mit Jenseitsvorstellungen verknüpfter, religiöser Ideen denken lässt. Auffällig ist ferner eine in der südkretischen Mesara festgestellte, Spätminoisch I-zeitliche Verwendung von Tonstatuetten mit aus mittelminoischen Höhenheiligtümern bekannten Gesten, etwa in der Nekropole und Villa von Ayia Triada, in einem am Westhof des Palastes von Phaistos gelegenen öffentlichen Schrein sowie in der Villa von Kannia. Dieses andernorts kaum belegte Phänomen weist auf eine gezielte Anknüpfung lokaler Eliten an frühere, in Höhenheiligtümern konzentrierte performative Akte im Kontext zentraler Gebäude und nekropolenbezogener Kultbauten hin. Ein ausschließlich von männlichen Figuren gezeigtes Gestencluster mit offeneren, möglicherweise redebegleitenden Haltungen sowie betont auf die Körpermitte gerichteter Präsenzgestik trat schließlich an Statuetten aus Palästen und Kulthöhlen der fortgeschrittenen Spätminoisch IB-Zeit zutage. Dessen Fortbestehen in Kulthöhlen der Spätminoisch II/III-Zeit deutet auf ein spezifisches, an diesen kultisch-rituellen Kontext gebundenes Phänomen hin. Insgesamt erbrachte die systematische Aufarbeitung der Gestendarstellungen unter Berücksichtigung ihres Kontextes und ihrer Chronologie wichtige Neuerkenntnisse und eröffnet zugleich vielfältige Ansatzpunkte für weiterführende Forschungen zu Religion, Ritual und Gesellschaft sowohl im minoischen Kreta selbst als auch in den von dessen kulturellem Einfluss geprägten Regionen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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A Lost Ritual Space in the Palace at Knossos: Re-Contextualising the Fresco of the ‘Dancing Lady’, in: F. Blakolmer (Hrsg), Current Approaches and New Perspectives in Aegean Iconography, AEGIS 18 (Louvain-la-Neuve 2020) 147–176 (in Anlage)
U. Günkel-Maschek
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Adoration and Visionary Practices, or Expressions of Lamentation and Grief in Bronze Age Crete?, in: U. Günkel-Maschek – C. Murphy – F. Blakolmer – D. Panagiotopoulos (Hrsg.), Gesture, Stance, and Movement. Communicating Bodies in the Aegean Bronze Age. Proceedings of the international conference at the University of Heidelberg, 11– 13 November 2021 (angenommen zum Druck; in Anlage)
U. Günkel-Maschek
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International Conference. Gesture-Stance-Movement: Communicating Bodies in the Aegean Bronze Age. Les Carnets de l'ACoSt, 22.
Pestarino, Marta
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Introduction: Communicating Bodies in Aegean Bronze Age Archaeology, in: U. Günkel-Maschek – C. Murphy– F. Blakolmer – D. Panagiotopoulos (Hrsg.), Gesture, Stance, and Movement. Communicating Bodies in the Aegean Bronze Age. Proceedings of the international conference at the University of Heidelberg, 11–13 November 2021
U. Günkel-Maschek; C. Murphy; F. Blakolmer & D. Panagiotopoulos
