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Profession und normative Ordnungen in der Entstehung der urbanen Hilfsschule: Die Modernisierung der Regierung des Sozialen (Wiedereinreichung)

Antragstellerin Professorin Dr. Vera Moser
Fachliche Zuordnung Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft
Förderung Förderung von 2016 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 322696163
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Forschungsvorhaben untersuchte im Zeitraum 1890-1914 die Hervorbringung einer neuen ‚sozialen Tatsache‘ (Durkheim), die Entstehung des Hilfsschulkindes. In den bisher vorliegenden Historiographien wird diese weitgehend in den Kontext des Leistungsanstiegs im Sinne erhöhter fachlicher Anforderungen an die Schüler:innen der Volksschule gestellt. Im Projekt kann dieser enge schulpädagogische Zusammenhang nicht bestätigt werden. Vielmehr entsteht im ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland ein Netz aus Aktivitäten (‚Wissenspraktiken‘) von pressure groups, sozialen Ordnungsanstrengungen, armenrechtlichen Ambitionen, statistischen Erhebungen und pädagogischen Ideen im Kontext einer Drohkulisse einer moralisch und sozial zerfallenden Gesellschaft im Ausgang des 19. Jahrhunderts, die das Hilfsschulkind hervorbringt. Disziplinäre Bezüge zu Pädagogik, Psychiatrie und Medizin verleihen der hierfür entwickelten Hilfsschulpädagogik eine spezifische Kontur (‚Wissensordnungen‘), welche mit ihrer Präsentation auf der Internationalen Hygieneausstellung 1911 ihren vorläufigen Abschluss findet. Das Hilfsschulkind wird hier zum Symbol für eine sozialhygienisch zu bearbeitende Problemlage, die durch den vermeintlichen Funktionsverlust tradierter Institutionen wie Kirchen, Schulen und Familien (so die Rede Kielhorns 1887) entstanden sei. Damit kann sich auch die Hilfsschulpädagogik zu einer gesellschaftlich relevanten Kraft stilisieren und an gestalterischem Einfluss gewinnen (‚Wissensregime‘), denn das Hilfsschulkind ist kein Subjekt moderner Selbstsorge (Sarasin), sondern es bedarf der beständigen Aufsicht und Kontrolle, wie auch die Debatten um nachschulische Heime zeigen. Mit dem Hilfsschulkind entsteht ein Dispositiv, welches eigene Wissenspraktiken (Führung von Personalbögen mit Hilfe eigener diagnostischer Instrumente und unterstützt durch den Schularzt, Unterrichtung in kleineren Klassen und eigenen Schulen), Wissensordnungen (Verknüpfung von pädagogischem, medizinischem und psychiatrischem Wissen, Stabilisierung des Hilfsschulkindes und der Hilfsschule über statistische Erfassung) und neue Wissensregime einschließlich einer neuen Profession und ihren Anstrengungen zur Konstitution einer wissenschaftlichen Disziplin hervorbringt, die sich 1898 im Verband der Hilfsschullehrer Deutschlands institutionalisiert. Aus lokalgeschichtlicher Perspektive lässt sich dieser Prozess als relativ gleichförmig beschreiben, indem lokale statistische Erfassungen sogenannter bildungsfähiger Kinder in ‚Idiotenanstalten‘ – auf der Grundlage vager Vermutungen – aus armenrechtlicher Perspektive von Interesse geworden sind, was sich wiederum vor dem Hintergrund nationaler Aktivitäten des Hilfsschullehrerverbandes, der sich aus der Allgemeinen Deutschen Lehrerversammlung herausschält, abbildet, der schließlich ein konsistentes Bild des Hilfsschulkindes entwirft. Dieses Bild ist ein wichtiger Puzzlestein im Kontext des Verfallsdiskurses am Ende des 19. Jahrhunderts. Damit zeigen sich Zirkulationsprozesse im Sinne des New Historism zwischen Verwaltungen, neuen pressure groups und pädagogischen Diskursen, die sich schließlich in der Erfindung von Hilfsschulkind und dem Bau von Hilfsschulen, in der Etablierung einer eigenen Pädagogik, einem eigenen Berufsverband und Professionalisierungsbemühungen einschließlich eigener Diskursplattformen materialisieren. Die Epoche, in der sich dieses ereignet, wird auch als Fin de Siècle bezeichnet, in der sich antimodernistische Narrative, die auf Dekadenz- und Degenerationsannahmen beruhen, in Literatur, Kunst, Musik und den Wissenschaften platzieren können.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2021). Behinderung und Menschenbilder. In M. Zichy (Hrsg.), Handbuch Menschenbilder. Wiesbaden: Springer
    Moser, V.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-32138-3_42-1)
  • (2021). Die „Kielhorn-Rede“: Ursprungsmythos der deutschen Hilfsschule. In S. Reh, P. Bühler, M. Hofmann & V. Moser (Hrsg.), Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880 - 1980. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 29-45
    Garz, J., Wünsch, S. & Moser, V.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.25656/01:22268)
  • (2021). „Schriftproben von schwachsinnigen resp. idiotischen Kindern“. Testwissen zwischen Psychiatrie und Pädagogik um 1900. In S. Reh, P. Bühler, M. Hofmann & V. Moser (Hrsg.), Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880 - 1980. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 47-62
    Garz, J.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.25656/01:22269)
  • Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880 - 1980. Bad Heilbrunn: Klinkhardt
    Reh, S., Bühler, P., Hofmann, M. & Moser, V. (Hrsg.)
    (Siehe online unter https://doi.org/10.25656/01:22266)
  • (2022). Das A(b)normale in der Pädagogik 1880-1980. Wissenspraktiken – Wissensordnungen – Wissensregime. Bad Heilbrunn: Klinkhardt
    Moser, V. & Garz, J. (Hrsg.)
  • (2022). Profession und normative Ordnungen in der Entstehung der urbanen Hilfsschule: Die Modernisierung der Regierung des Sozialen Oder: Die Entstehung einer pädagogischen Tatsache. In V. Moser & J. Garz (Hrsg.) (2022), Das A(b)normale in der Pädagogik 1880-1980. Wissenspraktiken – Wissensordnungen – Wissensregime. Bad Heilbrunn: Klinkhardt
    Moser, V. & Frenz, S.
  • (2022). Zwischen Anstalt und Schule. Eine Wissensgeschichte der Erziehung „schwachsinniger“ Kinder. Berlin 1840-1914. Transcript (Dissertation)
    Garz, J.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783839458525)
  • (2022): Aus der Anstalt in die Schule. Personalbogen für Nebenklassen als kleine Formen des Wissens. In V. Moser & J. Garz (Hrsg.), Das A(b)normale in der Pädagogik 1880-1980. Wissenspraktiken – Wissensordnungen – Wissensregime. Bad Heilbrunn: Klinkhardt
    Garz, J.
 
 

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