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Hungerstreik. Die Geschichte einer Protestform in den USA, 1880 bis zum Zweiten Weltkrieg

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2017 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 329546704
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt untersuchte die Geschichte von Hungerstreiks und Zwangsernährung in den Vereinigten Staaten bis zum Zweiten Weltkrieg. Es konnte herausgearbeitet werden, dass sich die Nahrungsverweigerung als Protestform von versklavten Afrikaner*innen auf der erzwungenen Überfahrt auf den amerikanischen Kontinent etabliert hatte. Bei diesen Hungerstreiks avant la lettre diente die gewaltsame zwangsweise Ernährung der Versklavten als Mittel, um das in Menschen und ihre Arbeitskraft investierte Kapital zu erhalten. Die zwangsweise Ernährung etablierte sich sodann als eine alltägliche Praxis in den seit Anfang des 19. Jahrhunderts quer über die USA errichteten psychiatrischen Einrichtungen. Dabei wurden immer öfter neu entwickelte Sonden als Instrumente genutzt, da bei dieser künstlichen Ernährung durch Mund oder Nase, im Verhältnis zu anderen Mitteln, vermeintlich weniger Zwang und Gewalt angewendet werden mussten. Während die Ursachen von Nahrungsverweigerungen auf verschiedene Gründe zurückgeführt wurden, etablierte sich seit Mitte der 1880er Jahre eine neu aufkommende Diskussion über nun als „Hungerstreiks“ bezeichnete Proteste. Das Projekt konnte erarbeiten, dass der Begriff „Hungerstreik“ für Nahrungsverweigerungen von Inhaftierten auf Berichte des amerikanischen Forschungsreisenden George Kennan über das Verbannungswesen des russischen Zarenreichs zurückging. Das Projekt konnte ferner herausarbeiten dass sich in einem mitunter eng verflochtenen transatlantischen Netzwerk aus Feministinnen und Anarchist*innen zwischen 1909 und 1917 Hungerstreiks als öffentliche und medial inszenierte Protestform etablierten. Hungerstreiks trugen zur Konstruktion von „politischen Gefangenen“ als Held*innenfiguren bei und zeigten sich als Praxis eines rebellischen Selbst. Darüber hinaus konnte erarbeitet werden, dass Hungerstreiks eine unmittelbar ortsspezifische Rationalität besaßen. Das heißt in Kontexten, in denen Umfang, Art und Weise der Ernährung strukturell zu den Techniken der Disziplinierung gehörten wurden Hungerstreiks zu Techniken des Widerstands. Dies zeigte sich unter anderem bei der Untersuchung von Hungerstreiks amerikanischer Kriegsdienstverweigerer, die auch im Hinblick auf die Einbettung in religiöse Diskurse untersucht wurden, in denen Narrative christlicher Selbstopferung dem religiösen Suizidverbot gegenübergestellt wurden. Schließlich konnte das Projekt durch einen Blick auf Hungerstreiks von Kriegsdienstverweigerern während des Zweiten Weltkriegs zeigen, dass das Gefängnis als Ort intensiver Reform- und Sicherheitsdiskurse während der Zwischenkriegszeit zu einem Laboratorium für Protestpraktiken des amerikanischen Pazifismus und der Afro-amerikanischen, antirassistischen Bewegung wurde. Im Verlauf des Projekts schälte sich immer deutlicher hinaus, dass eine Geschichte des Hungerstreiks nur auch als eine Geschichte der zwangsweisen künstlichen Ernährung geschrieben werden kann. Damit trat neben das Gefängnis die Psychiatrie als einer der wesentlichen Orte von Nahrungsverweigerungen als Protestform. Der hungernde und zwangsernährte Körper zeigte sich darin stets als Terrain für die Aushandlung über den Subjektstatus der Einzelnen – als politisch handlungsfähiges Subjekt und als ein Subjekt am Rande des „Wahnsinns“. Damit konnte das Projekt schließlich einen Beitrag nicht nur zur Körper- und Sozialgeschichte der USA leisten, sondern insbesondere darauf aufmerksam machen, dass die historischen und gegenwärtigen Klassifikationsschemata des Sozialen auf ihre Konstruktionsbedingungen hin zu untersuchen sind, ihr Geworden-Sein nachzuvollziehen ist und damit nicht zuletzt zeigen, dass gerade auch die „totalen Institutionen“ (Goffman) umkämpfte Orte waren - im medialen und wissenschaftlichen Diskurs und in der alltäglichen Auseinandersetzung im sozialen Raum.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Der erste politische Hungerstreik in den USA. Anarchistische Rebellen und die Geschichte des Nicht-Essens als Protestform im frühen 20. Jahrhundert, in: Norman Aselmeyer/Veronika Settele (Hg.), Geschichte des Nicht-Essens. Verzicht, Vermeidung und Verweigerung in der Moderne, Berlin 2018, S. 145–174
    Buschmann, Maximilian
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110574135-006)
  • „Freiheit oder Hungertod“. Hungerstreiks als Protestform politischer Gefangener in der frühen Weimarer Republik, in: Werkstatt Geschichte 80 (2019), S. 17-35
    Buschmann, Maximilian
 
 

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