Der Aristotelismus in Helmstedt: Karriere eines europäischen Paradigmas
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Leitende Fragestellung des Projekts war, welche Rolle dem Aristotelismus als wissenschaftliches Paradigma an der Universität Helmstedt im 17. Jahrhundert zukam. Unter Aristotelismus wird dabei kein fest determiniertes philosophisches Lehrgebäude verstanden, sondern eine große Bandbreite an Positionen, die sich explizit auf Aristoteles als Vertreter der „alten“ Philosophie beriefen und deren Vertreter sich von diesem Standpunkt aus mit neueren philosophischen Ansätzen auseinandersetzten. Untersuchungszeitraum war ca. 1650–1700, die Quellengrundlage bestand vor allem in Disputationen und Dissertationen sowie in Vorlesungsverzeichnissen, Programmschriften und (teils nur archivalisch überlieferten) Rechenschaftsberichten. Es wurden besonders die Fächer Metaphysik, Physik und Ethik in den Blick genommen, ergänzt durch Gebiete wie Zoologie, Seelenlehre und Meteorologie. Trotz ihrer letztlich regionalen Bedeutung erwies sich die Universität Helmstedt wegen der immensen und aussagekräftigen Überlieferung sowie der ausgeprägten Debattenkultur als paradigmatisch für die europäische Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts. Die Untersuchung offenbarte eine große Vielschichtigkeit und Komplexität des Phänomens. Eine Präferenz besteht für bestimmte Autoren des Renaissance-Aristotelismus, die im Rufe besonderer Wissenschaftlichkeit standen. Ab 1650 gerät diese Ausrichtung unter Druck durch neuere Ansätze wie die neue Korpuskulartheorie. Einen erheblichen Einfluss übte die zeitgenössische angelsächsische Philosophie u. a. von Digby und Boyle aus, deren Urheber sich stark um Kohärenz mit aristotelischen Positionen bemühten. Helmstedt zeigt hier eine bemerkenswert gute Vernetzung im europäischen Gelehrtendiskurs, was über Reisen, Buchhandel, gelehrte Journale und Korrespondenzen wie insbesondere mit Leibniz erreicht wurde. Die Kritik, die in Helmstedt an der neueren Philosophie geäußert wurde, basierte auf einer beachtlichen Kenntnis der zugrunde liegenden philosophischen Schriften und lief keineswegs auf eine dogmatische Ablehnung von Innovation hinaus. Die Entwicklung verlief auch nicht gleichmäßig und ausschließlich in Richtung der neueren Philosophie. Je nach Lehrstuhlinhaber war auch eine Re-Aristotelisierung von Lerninhalten möglich. Fächer wie Ethik waren dem aristotelischen Paradigma stärker verhaftet als etwa die Physik. Ein wichtiges Anwendungsfeld für das aristotelische Paradigma war auch die Theologie, was sowohl mit seiner Leistungsfähigkeit in theologischen Argumentationen als auch mit der Karriereplanung der Gelehrten zusammenhängen dürfte.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„Seleniten und Experten der anderen Welt. Die Debatte über das Leben auf dem Mond im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Frank Rexroth – Teresa Schröder-Stapper (Hgg.), Performativität und Medialität vormoderner Wissenskulturen (Beiheft Historische Zeitschrift 71), Berlin 2018, S. 143–174
Bernd Roling
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„Elfi, fate e silfidi. La rielaborazione accademica delle creature intermedie paracelsiche nelle università tedesche e scandinave”, in: Riccarda Suitner (Hg.), Gli illuministi e i demoni. Il dibattito su magia e stregoneria dal Trentino all’Europa, Rom 2019, S. 145–166
Bernd Roling
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„Johann Ludwig Hannemann (1640–1724) and the Defence of Paracelsism in Kiel”, in: Pietro Daniel Omodeo – Volkhard Wels (Hgg.), Natural Knowledge and Aristotelianism at Early Modern Protestant Universities, Wiesbaden 2019, S. 271–298
Bernd Roling
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„Lignum vitae. Der Baum des Lebens als Voraussetzung der Unsterblichkeit Adams“, in: Marialucrezia Leone (Hg.), ‚Il caso Adamo’: Letture del peccato originale nel pensiero medievale (Syzetesis. Associazione filosofica 6 [2019], Rom 2019), S. 461–480
Bernd Roling
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Vom geplünderten Frauenkloster zur Genese der Mediävistik: Die Bibliothek der Academia Julia und der Beginn der Mittelalterstudien in Helmstedt“, in: Andreas Speer – Lars Reuke (Hgg.), Die Bibliothek – The Library – La Bibliothèque. Denkräume und Wissensordnungen (Miscellanea Mediaevalia 41), Berlin 2020, S. 793–818
Bernd Roling
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„Die Geltung von Geographie und geographischem Wissen – Petrus Bertius’ Tabulae Geographicae contractae und die Beschreibung Arabiens um 1600“, in: R. Kaiser et al. (Hgg.), Wissen und Geltung (Göttingen, 2020 (V&R unipress; Berliner Mittelalter- & Frühneuzeitforschung, Bd. 24), S. 187–221
Benjamin Wallura
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„Excessus mentis: Universitäre Debatten über Entgrenzungserfahrungen in der Anthropologie der Frühen Neuzeit“, in: Sascha Salatowsky – Wilhelm Schmidt-Biggemann – Jan-Luca Albrecht (Hgg.), De homine. Anthropologien in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2020, S. 207–226
Bernd Roling
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„Narben und Blut: Die körperliche Vollständigkeit des auferstandenen Christus zwischen Mittelalter und früher Neuzeit“, in: Regina Toepfer – Tobias Bulang (Hgg.), Heil und Heilung. Die Kultur der Selbstsorge in der Kunst und Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Heidelberg 2020, S. 81–104
Bernd Roling
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„Standstill or death: Early modern debates on the hibernation of animals”‚ in: Roberto Lo Presti – Georgia Maria Korobili (Hgg.), Nutrition and Nutritive Soul in Aristotle and Aristotelism, Berlin 2021, S. 339–354
Bernd Roling