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Psychiatrie und Subjektivität im Wandel. Erfahrungen von Patientinnen und Patienten bundesdeutscher psychiatrischer Einrichtungen von den 1960er Jahren bis heute.

Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Soziologische Theorie
Förderung Förderung von 2017 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 347674198
 
Erstellungsjahr 2022

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das DFG-Forschungsprojekt hat mittels qualitativer Methoden der Interviewforschung Subjektivierungsweisen Psychiatrie-Erfahrener untersucht. Unter Subjektivierung wird hier die Zuweisung und Aneignung von Subjektpositionen verstanden. Sie beinhaltet sowohl die Selbstwahrnehmung und -deutung sowie die Handlungsfähigkeit als auch die sozialen Anforderungen und Erwartungen im Hinblick auf Selbstformung und Verhalten. Ausgangspunkt des Forschungsprojekts war die Frage, inwiefern Menschen, die sich mit der medizinisch-diagnostische Feststellung einer Beschädigung ihrer Subjektivität und mit dem sozialen Ausschluss vom Status des Subjekts konfrontiert sehen, ebenfalls von subjektivierenden Sozial- und Selbsttechnologien erfasst werden – und was dies für Betroffene bedeutet. Heuristisch verschränkt das Forschungsprojekt historische Befunde, Theorien der Subjektivierung und empirische Forschung. Den sozialgeschichtlichen Hintergrund bildet der Wandel des Verhältnisses von Psychiatrie und Gesellschaft: Seit den 1960er-Jahren lässt sich eine zunehmende Verflechtung von Alltagsleben und Psychiatrie beobachten, eine „Psychiatrisierung des Alltags“ (Castel) und „Allgegenwart des therapeutischen Ethos“ (Illouz). Das Normale öffnet sich der einst klar davon unterschiedenen Pathologie, die Grenzziehung zwischen psychischer Krankheit und Gesundheit wird unklarer. Spiegelverkehrt zu dieser soziologischen Diagnose kann eine Veralltäglichung der Psychiatrie beschrieben werden, ein „flexibler Normalismus“ (Link) auch derjenigen Handlungsrationalitäten und Praktiken, die sich auf die medizinische Verwaltung des Verrückten, Anormalen und Dysfunktionalen beziehen. Normalitätsstandards halten auch in die Psychiatrie Einzug. Kurz: die Schwelle zwischen Psychiatrie und Gesellschaft, drinnen und draußen, verändert ihre Form, und dieser Prozess lässt sich auch an den Adressierungen der von Krankheit und Psychiatrie Betroffenen ausmachen. Idealtypisch wurde aus dem passiven Patienten der Anstalt die weitestgehend selbstbestimmte Nutzerin psychiatrischer Angebote, deren fallweise Zwangsbehandlung zunehmend problematisiert wird. Die Figur der Patientin und des Patienten erfährt seit der Institutionalisierung der Psychiatriereform in Deutschland in den 1990er-Jahren einen gravierenden Wandel, als dessen Eckpunkte die Debatte um juristische (Vorausverfügungen) und soziale Autonomie, informierte Zustimmung und geteilte Entscheidungsfindung, Partizipation und Selbsthilfe, Abbau der Hierarchie in der Beziehung von Behandelnden und Behandelten, Eigenverantwortung und Prävention genannt werden können. Die rekonstruktive Auswertung der 34 erhobenen Interviewerzählungen zeigte, dass sich Elemente des skizzierten Diskurses auch in den Selbstwahrnehmungen Betroffener finden, die zu den Adressierungen und Subjektangeboten allerdings in einem Spannungsverhältnis stehen. Es kristallisierten sich drei Themenkomplexe der Interviewerzählungen heraus, die Schwerpunkte der narrativen Aushandlung von im Widerspruch stehenden Selbst- und Fremdwahrnehmungen darstellen: Der Gebrauch des Krankheitsbegriffs in der Selbstbeschreibung, die Positionierung innerhalb der Beziehung zu Behandelnden, und die symbolische Bedeutung der Medikation. Auf diesen drei Feldern werden Normalitätsgrenzen gezogen und überschritten – „psychisch krank“ oder gesund, Patient:in oder keine, Medikamente oder keine – bzw. werden dort sowohl die Verunsicherung des sozialen Status als eigenverantwortliches Subjekt verhandelt als auch die Aufforderung diesen Status wiederherzustellen, zurückgewiesen. Trotz der damit verbundenen Anerkennung werden institutionelle Appelle an Autonomie und Partizipation von Betroffenen nämlich nicht uneingeschränkt positiv gesehen, sondern auch als bloße Erneuerung einer Praxis wahrgenommen, die auf sozialer und professioneller Distanz sowie Gleichgültigkeit basiert. Deutlich wurde, dass sich die einst exklusive Subjektform für die vormals davon ausgeschlossenen Psychiatrie-Erfahrenen geöffnet hat. Auch ihnen werden eine Annäherung an das Subjektideal zugestanden und Subjektpositionen diskursiv nahegelegt – ein Angebot der Subjektivierung als Versprechen und Zumutung zugleich.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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