Hilfe in Interaktionen im inklusiven Unterricht. Rekonstruktionen zur Etablierung und Prozessierung von Hilfepraktiken.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Erkenntnisinteresse des Projekts richtet sich auf Formen von Hilfepraktiken, wie sie sich im aktuell konturierenden inklusiven Unterricht als typische Modellierungen des pädagogischen Umgangs mit einer stark gesteigerten Heterogenität ausdifferenzieren. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die in Orientierung an den Menschenrechten modellierten inklusiven moralischen Normen zu den helfenden und unterstützenden Praktiken zwischen Schüler*innen in inklusiven unterrichtlichen Kontexten verhalten. Von diesen Hilfeinteraktionen wird angenommen, dass sie auf den als egalitär angenommenen Peerbeziehungen aufruhen und somit über sozial anerkennende Praktiken Differenzen im Sinn einer an den jeweiligen Stärken der Beteiligten orientierten gegenseitigen Hilfe ausgleichen. Dementsprechend liegen zu Beginn der Projektaktivitäten keine Studien vor, in denen die der Hilfebeziehung inhärente strukturelle Asymmetrie zwischen Hilfenehmer*in und Hilfegeber*in sowie die sich insbesondere in stark heterogenen Settings sehr wahrscheinlich einstellende und wenig flexible Statusdifferenz systematisch in den Blick genommen wird. Das Untersuchungsdesign wurde ergänzend zu den im Wesentlichen für den Primarbereich vorliegenden Studien in der noch kaum berücksichtigten Sekundarstufe I verortet. Das empirische Ziel bestand in der Ausarbeitung einer strukturellen Typologie der Pro-zessierungen von Hilfepraktiken zwischen Schüler*innen sowie deren systematischer Vermittlung zu den Etablierungen jener Hilfeinteraktionen seitens der Lehrkräfte. Über das Kontrastkriterium der Lebensabschnitte wurde angenommen, dass sich die Ausformung von Kooperation, Hilfe, Unterstützung und Zusammenarbeit mit dem Verlauf des Schulbesuchs zum einen im Zuge einer zunehmenden Relevanz von Peers, zum anderen im Zusammenhang mit einer sich verändernden individuellen Bezugnahme auf die schulischen Anforderungen wandelt. Das zweite Kontrastkriterium der Reziprozitätsdifferenz diente der Ablösung von vorliegenden diagnostischen Zugriffen, um unter der Berücksichtigung intersektionaler Dynamiken die angestrebte Typologie jenseits vorliegender Kategorisierungen anzulegen und die sich zeigenden Differenzlinien induktiv aus dem Material heraus zu entwickeln: Über alle Fälle der Etablierung von Kooperation hinweg finden sich Delegations-Figuren für den Umgang mit Hete-rogenität. Es liegt dadurch eine Dauerthematisierung von Ungleichheit ohne den Versuch einer ernsthaften Bearbeitung vor. Die Etablierungen nehmen mithin die Herstellung und den Aufrechterhalt von Differenz vor dem Hintergrund der allgemeinen schu-lischen Strukturlogik vorweg. Sie treiben insofern nicht die Bearbeitung von Differenz voran, sondern leisten einer Einsozialisation in den Umgang mit Differenz Vorschub. Der Fokus auf die dominanten unterrichtlichen Normen der sozialen Praxis, setzt sich in den Prozessierungen zwischen den Schüler*innen fort. In diesem Zusammenhang zeigt sich das Strukturproblem unterrichtlicher Inklusion: Die unterrichtliche Norm der sozialen Ordnung erzwingt, sofern sie nicht explizit ausgesetzt wird, dass sie auch gegenüber denjenigen aufrechterhalten werden muss, deren Teilhabe an dieser Praxis sich aufgrund einzelfallspezifischer Aspekte nicht vollständig realisieren lässt bzw. einer individualisierten Unterstützung und Hilfe bedürfte. Die Aufrechterhaltung der Teilhabe(auf)forderung treibt damit das Scheitern an dieser Norm nur deutlicher hervor. Die Nahtstelle der Teilhabe verläuft insofern entlang des durch pädagogische Unterstützung möglichen bzw. nicht mehr möglichen interaktiven Bezugs auf diese dominante soziale unterrichtliche Norm. Eine Dominanz des Partikularen scheint im Kontext des regelgeleiteten Zusammenhangs Unterricht nicht möglich – bzw. es zeigen sich im Projektzusammenhang auch im Horizont programmatischer Hilfeforderungen keine Hilfepraktiken, deren Handlungsfoki auf eine Einzelfallbearbeitung ausgerichtet sind. Die Delegation in die Interaktionen der Schüler*innen verhindert zunächst ein klassenöffentliches Aufbrechen jener Nicht-Vermittelbarkeit, was jedoch schließlich, gestützt von den diesem Prozess zuarbeitenden Etablierungen, zu klassenöffentlichen Entgrenzungen und Verletzungen führt. Erst vor dem Hintergrund gefestigter Rollenerwartungen sowie internalisierter Rollenübernahmen und einer damit wieder einhergehenden Fähigkeit zur Rollendistanz können die diesbezüglich »kompetenten« Schüler*innen die widersprüchlichen Anforderungen zugunsten der Sonderrolleninhaber*innen über die legitimen Räume der sozialen Interaktion jenseits des Unterrichtlichen abfedern. Die Ergebnisse der Studie lassen auch im Kontext der Transformationsbemühungen hin zur inklusiven Schule keinen strukturellen Wandel von Unterricht erkennen. Die Praktiken der Subjektivierung bleiben latent über spezifische Anerkennungs- und Verkennungsdynamiken mit den Anforderungen der unterrichtlichen bzw. gesellschaftlichen Ordnungen verwoben. Widersprüche zeigen sich insofern nicht innerhalb der latenten Strukturen unterrichtlicher Interaktion, sondern zwischen Programmatik und Praxis eines sich um Hilfepraktiken zentrierenden Unterrichts. Wir sehen hier keine »Grenzverschiebungen von Unterricht«, sondern Praktiken der Stabilisierung auf der Ebene der Programmatik und der impliziten normativen sozialen Ordnungen. Die jenseits der unterrichtlichen Ordnung durchaus vermehrt zugestandenen Interaktionsräume stehen in keinem inneren Zusammenhang zu jener Platzierung qua Leistung. Sie bilden besondere Räume und damit auch Räume der Verbesonderung. Strukturell zeigen sich weder aufseiten der Etablierungen noch der Prozessierungen der Idee nach professionalisierte Formen einer einzelfallbezogenen Hilfe, sondern vielmehr Formen der Organisation von Hilfe, die Räume stellvertretender Inklusion zur Verfügung stellen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2018). Ungleichheit im inklusiven Unterricht. Rekonstruktionen zur Etablierung von Kooperation. sozialersinn, (2) 19, 401−418
Bender, S. & Rennebach, N.
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/sosi-2018-0019) - (2019). Unterricht und inklusiver Anspruch. Empirische und theoretische Erkundungen zu einer strukturtheoretischen Perspektivierung. Pädagogische Korrespondenz (60) 32, 28−50
Bender, S. & Dietrich, F.
(Siehe online unter https://doi.org/10.25656/01:21117) - (2020). Unterrichtliche Teilhabe zwischen Kontingenz und Kontinuität. Zusammenarbeit zwischen Peers in inklusiven Lerngruppen. PraxisForschungLehrer*innenBildung, 2 (3), 20–34.
Bender, S.
(Siehe online unter https://doi.org/10.4119/pflb-3315)