Medialität und Modernität im NS-Kino. Fallstudien zur Geschichte von Kino und Kinoprogramm.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Mit unseren Recherchen und Auswertungen zur Hamburger Kinoöffentlichkeit hat es das Projekt Medialität und Modernität des NS-Kinos ermöglicht, die metropolitane Öffentlichkeit eines ortsfesten, kommerziell geführten Publikumskino anhand ausgewählter Zeiträume nahezu vollständig zu ermitteln und in ihren quantitativen wie qualitativen Dimensionen interpretativ zu erhellen. Zusammen mit den in den ersten beiden Projektjahren erforschten Parallelöffentlichkeiten des staatspolitischen Jugend- und Schulfilms, des Soldaten- und Wehrmachtskinos und des Kinos des Jüdischen Kulturbundes bestätigt sich darin die im Erstantrag aufgestellte Hypothese von der für die Wirkung des NS-Kinos konstitutiven Bedeutung mehrerer Parallelöffentlichkeiten. Da ein solcher Befund sowohl in der allgemeinen wie in der regionalen Film- und Kinoforschung bisher nicht vorliegt, kann dieses Ergebnis als ein keineswegs nur regional bedeutsames Alleinstellungsmerkmal des dreijährigen Forschungsprojekts gelten. Als wichtigstes Ergebnis ist in diesem Rahmen festzuhalten, dass sich das, was die Kinobesucher des Dritten Reichs zu Film und Kino wahrnahmen, nur in Teilen mit dem deckt, was die immer noch den Film und nicht das Kino fokussierende Forschung wahrnimmt. Verantwortlich dafür ist, dass sich (1) die Forschung generell immer noch zu sehr mit dem Spielfilm beschäftigt und die seit etwa 1934 für jede Filmvorstellung vorgeschriebenen Kulturfilme und Wochenschauen erst in jüngster Zeit im Rahmen neuerer Spezialstudien überhaupt entdeckt hat, als unverzichtbare programmästhetische Bestandteile einer auf den Zuschauer abgestimmten Kinoöffentlichkeit aber noch nicht, wie in unserer Fallstudie geschehen, gewichtet; (2) die Geschichte des Films immer noch im Rahmen einer nationalen Sektorierung als Geschichte des deutschen, österreichischen, schweizer, britischen oder US-Films erforscht wird, wodurch die für das zeitgenössische Filmpublikum konstitutive Internationalität des Filmangebots nicht in den Blick kommt; (3) die Analyse und Interpretation von Filmen immer noch an der Frage orientiert ist, ob und wenn ja wie Filme die für sie rekonstruierten ,hegemonialen‘ Botschaften vermitteln konnten. Dass Zuschauer da ganz anders, weil lebensweltlich adaptiv vorgehen, lassen unsere Ergebnisse zu Rezeption und Rezeptionsforschung erkennen. Die Bedeutung dieser Ergebnisse liegt darin begründet, dass es mit ihrer Hilfe möglich wird (1) außerhalb ideologisch kontaminierter Datensammlungen wie der in der Forschung bislang vor allem ausgewerteten SD-Meldungen aus dem Reich eine Fülle von Daten von Zeitgenossen und Zeitzeugen zur Rezeption des Mediums Film zugänglich zu machen und auszuwerten; (2) bezogen auf die gegenwärtig national wie international geführte Diskussion zu Rezeption und Rezeptionsforschung einen Beitrag dazu zu leisten, Zuschauer nicht länger als im Film-,Text‘ verankerte, ,ideale‘ Zuschauer-Konstrukte, sondern als empirisch rekonstruierbare und eigenständig agierende Zuschauer-Subjekte zu betrachten; (3) aus empirisch gegebenen Zuschauerreaktionen Hypothesen zu bilden, die sich auf die Brüche und Ambivalenzen eines um seiner eigenen Wirkung willen rückhaltlos populären NS-Kinos konzentrieren. Dazu, wie sich dieses Ergebnis im Rahmen textorientierter interpretativer Filmstudien fruchtbar machen ließe, wird die Abschlusspublikation einige exemplarische Versuche vorstellen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- NS-Medien in der Metropolregion Hamburg. Fallstudien zur Mediengeschichte des Dritten Reiches. Hamburg 2009 (= hamburger hefte zur medienkultur 11)
Harro Segeberg, Irina Scheidgen, Felix Schröter (Hrsg.)
- „Kino-Öffentlichkeit. Vom Umbruch der Medien zum Umbruch von Medienöffentlichkeiten“. In: Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hrsg.) Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte. Bd. 1, Bielefeld 2009, S. 113-127
Harro Segeberg, Corinna Müller
- „'Wirkliche Avantgardisten wird es immer nur wenige geben'. Hochbaum, die Medienstadt Hamburg und das NS-Kino“. In: Elisabeth Büttner, Joachim Schätz (Hg.): Werner Hochbaum: An den Rändern der Geschichte filmen. Wien: Verlag Filmarchiv Austria 2011, S. 201-225
Harro Segeberg, Simon Klingler, Ariane Mönche
- „Audiovision. Mediale Mobilmachung im Dritten Reich (mit einem Exkurs zum Zuschauer im NS-Kino)“. In: Christoph Henzel (Hrg.): Musik im Unterhaltungskino des Dritten Reiches. Würzburg 2011, S. 25-39
Harro Segeberg