Phänomenologie des Aktivseins – Grundlagen, Irreduzibilität, Typologie und Einheit
Theoretische Philosophie
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das vorrangige Ziel des Projekts bestand darin, die Frage zu klären, wie menschliche Subjekte ihr eigenes Aktivsein (und das anderer) aus einer Ersten-Person-Perspektive erfahren, um aufgrund dessen den Begriff bzw. das Wesen menschlicher Aktivität näher zu bestimmen. In diesem Sinne sollte das aktive Erleben oder die Phänomenologie des Aktivseins ins Zentrum der philosophischen Aufmerksamkeit gerückt werden. Wird diese phänomenale Dimension nicht berücksichtigt, so die These, verliert unser alltäglicher Begriff von Tun und Handeln letztlich seinen Sinn. Um das Projektziel zu erreichen, wurden sowohl klassische Texte aus der phänomenologischen Tradition als auch zeitgenössische Konzeptionen zur „phenomenology of agency“ untersucht, wobei sich gezeigt hat, dass heutzutage weniger bekannte Autoren, etwa der Husserl-Schüler Hans Reiner (1896-1991), eine reichhaltige Quelle für die Phänomenologie des Aktivseins darstellen. Ein weiteres wichtiges Ergebnis des Projekts besteht darin, dass menschliche Aktivität, phänomenologisch betrachtet, zwar einen strukturell invarianten Kern aufweist, sich jedoch in vier hauptsächlichen konkreten Erscheinungsformen manifestiert. Dieser Kern wesentlicher Bestimmungen besteht in einer simultanen Verflechtung von drei Momenten, nämlich den Aspekten der Spontaneität, Responsivität und Protentionalität. Jede erlebte Aktivität ist demnach solcherart, dass sie vom Subjekt ‚als Ganzen‘ ausgeht (=Spontaneität), indem dieses auf eine motivierende Situation antwortet (=Responsivität) und auf ein noch ausstehendes Ziel (im weitesten Sinne) gerichtet ist (=Protentionalität). Konkret manifestiert sich diese invariante und für sich genommen abstrakte Struktur in vier verschiedenen Typen menschlichen Aktivseins, die der Reihe nach als vitale (z.B. Atmen), willentliche, (re- )präsentationale (z.B. Assoziation) und expressive (z.B. Lachen, Seufzen) Aktivität bezeichnet werden. Psychologisch betrachtet, handelt es sich dabei jeweils um verschiedene Formen des Strebens. Phänomenale Aktivität ist demnach wesentlich strebende oder konative Aktivität. Im Kontrast zu einer weit verbreiteten Tendenz wird auf diese Weise gezeigt, dass sich der Begriff menschlicher Tätigkeit nicht im reflektiv-bewussten willentlichen bzw. absichtlichen Handeln erschöpft, sondern sich in die genannten vier Typen auffächert. Neben reflektivbewussten Handeln ‚im Lichte von Gründen‘ sind somit auch verschiedene Formen präreflektiv erlebten Aktivseins zu unterscheiden. Wird der Begriff der erst-personalen Aktivität auf diese Weise erweitert, hat dies Folgen dafür, wie weit die Freiheit bzw. (moralische) Verantwortung der Person reicht. Denn Freiheit und Verantwortung setzen, wenn auch nicht immer direkt, die Aktivität eines erlebenden Subjekts voraus. Sind wir z.B. auch für expressive Aktivitäten, etwa Lachen und Weinen, verantwortlich, oder beschränkt sich menschliche Freiheit und Verantwortung auf rational überlegtes willentliches Handeln? Wenn die wesentlichen Thesen des Projekts zutreffen, dann ist die erste Frage zu bejahen und die zweite zu verneinen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„Unifying Agency. Reconsidering Hans Reiner’s Phenomenology of Activity”, in: Husserl Studies
Christopher Erhard
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(2020): Phänomenologie: Edmund Husserl. In: Jan Urbich und Jörg Zimmer (Hg.): Handbuch Ontologie. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 169–176
Christopher Erhard
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„Negation, Nonbeing, and Nothingness” (2019), in: M. Eshleman/C. Mui/C. Perrin (Hgg.): The Sartrean Mind, London u.a.: Routledge. S. 172-185
Christopher Erhard
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„The varieties of activity. Hans Reiner’s contribution“ (2019): Erhard, C./Keiling, T. (Hgg.), Rouledge Handbook of the Phenomenology of Agency, London u.a. S. 79-95
Christopher Erhard