Theologische Philosophie und Philosophische Theologie. Das Corpus Hermeticum im kaiserzeitlichen Spannungsfeld von Philosophie und Religion
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Durch das im Anschluss an die aktuelle Erforschung des paganen Monotheismus und der Pluralisierung des Philosophiebegriffs in der römischen Kaiserzeit durchgeführte DFG-Projekt ist das Verhältnis des CH zu seiner Umwelt systematisch und historisch grundlegend aufgehellt worden. Hauptziel des Projektes war die Ermittlung der historischen Phänomenologie der im CH vereinigten Hermetica als eine Synthese von Offenbarung und Philosophie. Ihr Offenbarungscharakter ergibt sich aus ihrer formalen Bestimmung als Offenbarungsliteratur. Diese Kategorie gilt bereits für die hellenistische Schicht der astrologischen Hermetica. Was die Gattung der Philosophie betrifft, so wurde deutlich, dass die philosophische Theologie und der Monotheismus der Kaiserzeit als die Referenzpunkte im Bereich der antiken Philosophie anzusehen sind. Das CH ist indes keine griechische Philosophie, sondern theologische Philosophie, die sich aus der Pluralisierung des Philosophiebegriffs in der Kaiserzeit ergeben hat und die durch eine Sakralisierung von Philosophie ausgewiesen ist. Es zeigte sich, dass die Ermittlung einer historischen Phänomenologie des CH auf der synchronen Ebene der kaiserzeitlichen Wissensformationen der theologischen Philosophie und der philosophischen Theologie grundlegend möglich ist. Hierzu war die hermetische Lehre mit geeigneten Vertretern dieser Wissensformationen aus der Entstehungszeit des CH (1.–3. Jh. n. Chr.) eingehend zu vergleichen. Für die Auswahl wies uns die Forschungsgeschichte den Weg. Durch die Fülle der nachweisbaren Parallelen haben sich als statistisch repräsentativ herausgestellt: Philo von Alexandria, Plutarch von Chaironeia, die Chaldäischen Orakel, Numenios von Apameia, Plotin, Porphyrios von Tyros und Iamblichos von Chalcis. Die Gegenüberstellung dieser Parallelüberlieferung mit der Gedankenwelt des CH anhand der Kriterien der im Vorfeld vom Verfasser erarbeiteten Charakteristik des Corpus Hermeticum (Stuttgart-Bad Cannstatt 2018) hat dank der aufgedeckten Filiationen, Gemeinsamkeiten, Verschiedenheiten, Selbstabgrenzungen, Indienstnahmen usw. zum umfassenden Verständnis des CH im Spannungsfeld von Philosophie und Religion der Kaiserzeit entscheidend geführt. Die Ergebnisse bestätigen, dass die in unserer Charakteristik der hermetischen Lehre angewandte ontologisch-metaphysische Betrachtungsweise auf der Grundlage der hermetischen Triade (Gott, Welt, Mensch oder Transzendenz, Immanenz, Ethik) in der Tat einen bedeutenden Zugang zum CH als theologisch-philosophischen Phänomen kaiserzeitlichen Denkens gewährt. Wir haben es mit einer kaiserzeitlichen inklusiven Sonderform des paganen Monotheismus mit Offenbarungstheologie zu tun, die aus dem Umfeld der von den Griechen sogenannten Weisheit der Barbaren stammt (mit besonderer Berücksichtigung der Ägypter und Juden). Die Untersuchung gelangte zunächst zum überraschenden Ergebnis, dass Hermes Trismegistos in der direkten Nachfolge des Philo von Alexandria steht. Einzigartig ist der Nachweis, dass die hermetischen drei Formen des Geistes, die mit Gott eine wesensgleiche Einheit bilden, allein bei Philo ein älteres logostheologisches Gegenstück besitzen. Die von Philo begründete und von Hermes fortgeführte theologische Philosophie ist Offenbarungsweisheit, die den Anschluss an die philosophische Geistesentwicklung sucht. Sie hat aufgrund ihrer formal und inhaltlich durch das Projekt erwiesenen Vorbildfunktion für die philosophische Theologie des kaiserzeitlichen Platonismus (wegen des Offenbarungselements und der empfundenen Unzulänglichkeit des Aufstiegs auf dem diskursiven Weg der ‚griechischen Weisheit‘ der Einzelwissenschaften) in dieser deutliche Spuren hinterlassen und trägt deshalb wesentlich zur Erklärung dessen bei, warum die Frage nach der Gotteserkenntnis in dieser Strömung kaiserzeitlicher Philosophie im untersuchten Zeitraum geradezu unter den Nägeln brennt. Ein nachhaltiger Einfluss ging vor allem vom hermetischen Derivationssystem und von der hermetischen Theorie über den Weg des Geistes aus. Die Studie weist in diesem Sinne erstmals nach, dass Plotins Ableitungsmodell der Wirklichkeit, das alle Dinge vom Einen her in stetiger Derivation erzeugt, auf einer eigenwilligen Transformation des hermetischen Derivationssystems beruht. Plotin nahm sich zudem in Bezug auf die zwei aufeinander bauenden Stufen der höheren Geisterkenntnis, die zum höchsten Wissen führen, die theologische Philosophie zum Vorbild. Plotin hat sich insgesamt in der theologischen Philosophie grundlegend inspiriert. Für die Mittelplatoniker Plutarch und Numenios, aber auch für die Chaldäischen Orakel (OC) gilt dies nach unseren Forschungen ohnehin schon. Plutarch ist der früheste Zeuge für die Wirkung des hermetischen Derivationssystems auf die griechische Philosophie. Mit seinem Ägyptenbild in De Iside et Osiride scheint Plutarch Stellung zu beziehen in einem philosophisch-hermeneutischen Wettbewerb um die Deutung der Theologie der Ägypter, in dessen Rahmen er möglicherweise die hermetischen Texte als auch das Denken des ägyptischen Priesterphilosophen Chairemon (1. Jh. n. Chr.) einordnete. Dass dieser Versuch auf die theologische Philosophie des CH nicht verzichten konnte, darf jetzt als sehr wahrscheinlich gelten. Die Forschungen zu den OC haben insgesamt ergeben, dass sie auf die theologische Philosophie zurückgreifen. Immer wieder ergab sich eine Spur zum zweifellos älteren hermetischen Traktat Poimandres (CH I), aber auch zu Philo von Alexandria. Ebenso bedeutend ist, dass die Dreigötterlehre des Numenios, eins der wohl wichtigsten Zeugnisse der philosophischen Theologie des 2. Jh., einen weiteren nach Plutarch recht frühen Beleg für die Wirkung des hermetischen Derivationssystems auf den Mittelplatonismus bildet sowie eine indirekte Bestätigung für die ersten zwei Glieder der hermetischen drei Formen des Geistes liefert. Die Untersuchung konnte insbesondere durch das Zeugnis des Iamblichos in De Mysteriis Aegyptiorum (Myst.) erstmals zeigen, dass Porphyrios und Iamblichos selbst Schriften aus dem CH vorgelegen haben müssen. Dies ist angesichts der jetzt gesicherten grundlegenden Aneignung des CH durch Plotin nicht überraschend. Von Bedeutung ist der weitere Nachweis, dass es in Porphyrios’ philosophischer Theologie eine Spannung zwischen einem aus Plotins Denken extrahierten Modell und einem exemp larisch durch das CH repräsentierten Typus eines inklusiven Monotheismus herrscht. Bei Iamblichos ist die philosophiekritische Funktion der in Myst. gebotenen Darstellung der Haltung der Hermetiker gegenüber der griechischen Philosophie stark reminiszent. Die Untersuchung bildet die unerlässliche Grundlage für die Erforschung der patristischen Testimonien über Hermes Trismegistos und seine Lehre, die der Verfasser seit Herbst 2020 durchführt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Charakteristik des Corpus Hermeticum, Clavis Pansophiae 7,3.1, Stuttgart-Bad Cannstatt (frommann & holzboog) 2018, 472 Seiten
Esteban Law