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Bye, bye Biene? Zur Funktionalisierung wissenschaftlichen Nichtwissens vs. Wissens im Pestizid-Diskurs

Antragstellerin Professorin Dr. Nina Janich
Fachliche Zuordnung Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft, Experimentelle Linguistik, Typologie, Außereuropäische Sprachen
Förderung Förderung von 2017 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 389692661
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Ziel des Projekts war es, den akteursspezifischen Umgang mit wissenschaftlichem Wissen, Nichtwissen und Unsicherheit nicht nur in seiner sprachlichen Form zu beschreiben, sondern auch unter der Perspektive der diskursiven Funktionalisierung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu analysieren und zu deuten. Am Beispiel der Naturschutzbiologie (Fach), hier der Wirkung von Pestiziden (Diskurs), und konkret an der Debatte um Genehmigung/Verbot einzelner umstrittener Neonicotinoide im Hinblick auf ihre Folgen u.a. für die Populationen von Honig- und Wildbienen (Diskursausschnitt), wollte das beantragte Projekt daher entsprechende Grundlagen schaffen, um die bisherigen Erkenntnisse zur sprachlichen Form wissenschaftlichen Nichtwissens in Texten der Wissenschaftskommunikation um diskurs- und pragmalinguistische Analysen ihrer Funktionalisierung zu erweitern und ein tieferes Verständnis von Diskursmechanismen beim Umgang mit wissenschaftlichem Nichtwissen zu ermöglichen. Für die Analyse hat sich ein an den Kategorien der klassischen Rhetorik ausgerichtetes Untersuchungsdesign als nützlich erwiesen. Die etablierte diskurslinguistische Perspektive auf die ‚Wissenskonstituierung‘, die von der Rhetorik bereits zentrale Konzepte wie etwa den Topos-Begriff übernommen hat, konnte dadurch systematisch um die relevanten Faktoren ‚Selbstdarstellung‘ und ‚Emotionalität‘ erweitert werden. Zudem konnten so bei der Untersuchung konkreter Sprachgebräuche die heterogenen und teils subtilen Prozesse der Nichtwissenskonstituierung in einem diskursiven Zusammenhang in den Blick genommen werden. Untersucht wurden umfangreiche und über das Internet verfügbare Informationsbroschüren der Agrarindustrie (hier: AGRAR) und verschiedener Umwelt- und Naturschutzverbände (hier: ÖKO). Die Analyse machte deutlich, dass die Beschreibung der Konstituierung und Funktionalisierung wissenschaftlichen Wissens und Nichtwissens insbesondere deren Einbettung in komplexe Wissensstrukturen berücksichtigen muss. Diese betreffen durch Sprachgebräuche ausgedrückte Weltbilder und Ideologien bis hin zu Konzeptualisierungen konkreter Sprachgebrauchssituationen und führen in den Texten zu Plausibilitätsstrukturen, die auch Selbst- und Fremddarstellungsleistungen, Inszenierungen sozialer Beziehungen und das Hervorrufen von Emotionen umfassen. Es konnte gezeigt werden, dass AGRAR und ÖKO auf mehreren Ebenen verschiedene rhetorische Strategien der Wissenskonstituierung in der öffentlichen Debatte realisieren, die sich u.a. durch einen unterschiedlichen Handlungscharakter beschreiben lassen: Während ÖKO in seinen Debattenbeiträgen als Ankläger gegenüber der bestehenden landwirtschaftlichen Praxis auftritt und regulative Interventionen fordert, inszeniert AGRAR sich als Aufklärer in einer kontroversen Debatte. Zudem zeigen sich in den beiden Argumentationen deutlich unterschiedliche ideologische Hintergrundannahmen, die sich etwa in Form argumentativer Topoi wie dem Technische- Lösungen-Topos bei AGRAR oder als emotionsbezogene bzw. emotive Bewertungen bei ÖKO rekonstruieren lassen. Die Rhetorik der Akteure hat auch Auswirkungen auf die Textrezeption: So muss sich die Rezipientin etwa bei AGRAR die Faktizität zentraler Streitfragen im Prozess des Textverstehens selbst erschließen, weil AGRAR hierzu selten selbst explizit Stellung bezieht. Hieraus kann trotz vorgeblicher Wissensbehauptungen und dem Darlegen von Forschungsergebnissen ein nicht zu vernachlässigendes Maß an Ungewissheit resultieren. Im Gegensatz dazu wird die Faktizität zentraler Zusammenhänge (etwa die Existenz eines Bienensterbens) bei ÖKO weitestgehend vorausgesetzt und durch wissenschaftliche Forschung lediglich bestätigt. Bei AGRAR ist die Frage nach dem wissenschaftlichen (Nicht-)Wissen daher v.a. eine Frage des technologischen Fortschritts und der damit einhergehenden Problemlösungen. In diesem Sinne wird wissenschaftliche Forschung als ausstehende Notwendigkeit und angemessene Alternative zu politischen Entscheidungen dargestellt. ÖKO stellt Wissenschaft dagegen vor allem als investigatives Organ dar, das skandalöse Zustände aufdeckt und Nachweise erbringt, die regulative Interventionen nach sich ziehen (sollen).

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2020): Investigating Ethos and Pathos in Scientific Truth Claims in Public Discourse. In: Media and Communication, 8,1, 129-140
    Simon, Niklas
    (Siehe online unter https://doi.org/10.17645/mac.v8i1.2444)
  • (2021): Die Reduzierung epistemischer Gewissheit im Bienen-Pestiziddiskurs durch Widerspruch. In: Warnke, Ingo H./Hornidge, Anna-Katharina/Schattenberg,Susanne (Hrsg.): Kontradiktorische Diskurse und die Macht im Widerspruch. Wiesbaden: Springer VS, 173-195
    Simon, Niklas
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-30345-7_8)
  • (2021): Fragen und Antworten. Wissenskonstitution in Kontroversen am Beispiel des Glyphosat-Diskurses. In: Fachsprache. Journal of Professional and Scientific Communication 43.1–2: 22–51
    Simon, Niklas/Janich, Nina
  • Aufklären und Fordern in der Pestizid-Debatte. Zu einer Textwelt-Rhetorik der Wissenskonstitution. Berlin/Boston (Sprache und Wissen 55).
    Simon, Niklas
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783111077369)
 
 

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