Deutscher Geist am Bosporus. Zur Rezeption von Ontologie und philosophischer Anthropologie an der Universität Istanbul (1933–1960)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt zielt darauf ab, die historischen und theoretischen Ursachen für die starke Resonanz zu benennen, die bestimmte Strömungen der deutschsprachigen Philosophie in der türkischen Universitätsphilosophie des 20. Jahrhunderts gefunden haben. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der 1950er Jahre hat sich die türkische Universitätsphilosophie in Verbindung mit einem immer wichtiger werdenden akademischen Austausch mit Deutschland entwickelt. In der republikanischen Gründungsphase wurde sogar die staatlich geförderte Rezeption der deutschen Philosophie, in Abgrenzung zu einer mit der osmanischen Vergangenheit assoziierten französischen Gelehrsamkeit, zur Grundlage der Institutionalisierung der Philosophie und der Sozialwissenschaften als akademische Disziplinen. Aus dieser Rezeption sollte zudem eine neue Auffassung der Philosophie entstehen, die zugleich dem Wunsch einer radikalen sozio-kulturellen Transformation und einer Erneuerung in der türkischen Modernisierungspolitik entspreche. Die Universitätsreform von 1933, die in der Literatur als radikaler Bruch mit der Vergangenheit dargestellt wird, ist jedoch eine Fortsetzung der politisch motivierten Orientierung an Deutschland, die sich während des Ersten Weltkrieges herausgebildet hatte. Entgegen der vorherrschenden Meinung stellt die Wirkung von deutschen Emigranten in den 1930er Jahren an der Universität Istanbul keinen Höhepunkt eines „deutschen Einflusses“ auf die türkische Universitätsphilosophie dar, sondern eher eine stärker transnationale, ja transatlantische Ausrichtung des Philosophiestudiums mit besonderem Schwerpunkt auf Wissenschaftsphilosophie und logischen Empirismus. Parallel dazu wurde aber eine neue Generation türkischer Universitätsphilosophen in NS-Deutschland ausgebildet, die während des Zweiten Weltkriegs am Philosophischen Seminar der Universität Istanbul zu Dozenten ernannt wurden. Mit den Bemühungen dieser Generation setzte sich in der Nachkriegszeit der „deutsche Geist“ an den Ufern des Bosporus durch, indem deutsche Vertreter der philosophischen Anthropologie (Rothacker, Gehlen, Freyer) und Philosophen aus dem Kreis von Nicolai Hartmann in die Türkei eingeladen wurden und der akademische Austausch mit Deutschland intensiviert wurde. Insbesondere das in der Zwischenkriegszeit entstandene Interesse an der philosophischen Anthropologie wurde in den 1950er Jahren am Philosophischen Seminar der Universität Istanbul dominant und prägte dauerhaft die sog. Istanbuler Schule, die bis heute im Bereich der Philosophie der Menschenrechte, der Ethik und der Ästhetik eigenständige Forschungen veranlasst. Angesichts der Auseinandersetzung mit der osmanischen Vergangenheit sowie den damit verbundenen Identitätsdiskursen und Positionierungsstrategien gegenüber Europa analysiert das Projekt die Aneignung bzw. die Kombination der ontologischen und anthropologischen Ansätze und ihre Anpassung an die spezifischen national-politischen Interessen der Türkei, insbesondere zu Themenfeldern wie Geschichte, Sprache und Kultur. Das Projekt leistet damit einen Beitrag zur Verstärkung des wissenschaftlichen Interesses für die Geschichte der Philosophie in der Türkei und zum interkulturellen Dialog im Bereich der Philosophie und der Sozialwissenschaften, nicht zuletzt im Feld der gegenwärtigen philosophischen Anthropologie.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Rakip Paradigmalar: Alman Felsefesinin İstanbul Üniversitesi’ne Girişi [Competing Paradigms: On the Reception of German Philosophy at Istanbul University]. Felsefe Arkivi - Archives of Philosophy, 2018/49, 37–51
Pascale Roure
(Siehe online unter https://doi.org/10.26650/arcp2018-596519) - Güzellik Nedir? Sanat Ontolojisi Kurma Yolunda İlk Çaba Olarak İsmail Tunalı’nın Doktora Tezi [Was ist Schönheit? İsmail Tunalı’s Dissertation als Versuch, eine Ästhetik ontologisch zu fundieren]. In: İsmail Tunalı Düşüncesi, hrsg. v. Ayhan Bıçak und Ömür Karslı. Istanbul: Dergâh yay. 2019, S. 52–66
Pascale Roure
- Auf der harten Schulbank der Sprache. Leo Spitzers Bemerkungen über das Erlernen des Türkischen. In: Selbstübersetzung als Wissenstransfer, hrsg. v. Andreas Keller und Stefan Willer. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2020, S. 171–190
Pascale Roure
- ‚Deutsche Philosophie’ im Spiegel türkischer Fachzeitschriften unter besonderer Berücksichtigung des Philosophischen Seminars der Universität Istanbul. In: „Zwischenvölkische Aussprache“. Internationaler Austausch in wissenschaftlichen Zeitschriften 1933–1945, hrsg. v. Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Ralf Klausnitzer und Kristina Mateescu. Berlin: De Gruyter 2020, S. 325–360
Pascale Roure
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110632569-011) - Fenomenolojiden Felsefi Antropolojiye. Takiyettin Mengüşoğlu’nun Almanca Doktora Tezi “Über die Grenzen der Erkennbarkeit bei Husserl und Scheler” [Husserl ve Scheler’de Bilinebilirliğin Sınırları] (1937), in: Düşünceleriyle Takiyettin Mengüşoğlu, hrsg. v. Ayhan Bıçak und Egemen S. Kuşcu, İstanbul: Dergâh yay. 2021, S. 161–182
Pascale Roure
- Between French Culture and German Geist: The Transnational Constitutions of Turkish Academic Philosophy. In: The Turkish Connection. Global Intellectual Histories of Late Ottoman and Republican Turkey, hrsg. v. Deniz Kuru und Hazal Papuççular. Oldenburg: De Gruyter 2022, S. 137–172
Pascale Roure
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110757293-006) - Ein internationaler Weg zu einer nationalen Philosophie. Die Türkei auf den Philosophie-Kongressen in der 1930er Jahren. In: Internationale Wissenschaftskommunikation und Nationalsozialismus, hrsg. v. Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Ralf Klausnitzer und Kristina Maatescu. Oldenbourg: De Gruyter 2022, S. 101–138
Pascale Roure
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110732283-005) - Logical Empiricism in Turkish Exile. Hans Reichenbach’s Research and Teaching Activities at Istanbul University (1933–1938). Synthese: All Things Reichenbach, 200 (2022), 265
Pascale Roure
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s11229-022-03740-9)