Schmerzerfahrungen im Wandel: Körperzustände, Sinneswahrnehmungen und Emotionen im frühen und hohen Mittelalter
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Zentrum des Forschungsprojekts stehen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Konzeptionen von Schmerzerfahrungen im frühen und hohen Mittelalter (6.-12. Jh.). Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Phänomen chronischen Schmerzes. Ausgangspunkt ist der aus dem vorhandenen Quellenmaterial erarbeitete Befund, dass anhaltender Schmerz nicht als Anomalie aufgefasst wurde. Während chronischer Schmerz heute als Fehlfunktion des Körpers bzw. als Abweichung von einem Normalzustand - und, damit einhergehend, implizit als Versagen von Körper und/oder Psyche - aufgefasst wird, erscheint die Chronifizierung von Schmerz in mittelalterlichen Quellen als verbreitete Form des Krankheitserlebens: Schmerz wurde als wandlungs- und anpassungsfähige, mobile und raumgreifende Entität beschrieben, die den Körper in vielen Fällen zu übernehmen schien. Schmerzbeschreibungen innerhalb der frühmittelalterlichen Überlieferung wurden von der medizinhistorischen Forschung lange als weitgehend unerheblich verworfen, da zwischen Schmerz und schmerzhaft erfahrener Krankheit in der Regel kaum unterschieden wurde. Gerade die darin zum Ausdruck gebrachte Verknüpfung von emotionalem und körperlichem Schmerz- bzw. Krankheitserleben ist jedoch für das Forschungsprojekt von zentraler Bedeutung: Sie wird nicht länger als Mangel an Abstraktionsvermögen aufgefasst, sondern als zeitgebundene, kulturell erlernte Form der Schmerzerfahrung im Hinblick auf ihre sozialen und kulturellen Bedeutungen untersucht. Zu diesem Zweck wurden Ansätze aus der Schmerzforschung, der Körpergeschichte, der Emotionsgeschichte, der crip theory und der Medizingeschichte zusammengebracht, um ausgewählte hagiographische Quellen, insb. Viten und Mirakelberichte, sowie weitere theologische und liturgische Texte, medizinisch-magische Kompendien, Briefe und Teile der historiographischen Überlieferung zu untersuchen. Dabei rückten u.a. unterschiedliche zeitliche Dynamiken des Schmerzerlebens sowie wechselseitige Durchdringungs-, Aus- und Abgrenzungsprozesse in den Blick. Schmerzerfahrungen wurden als spezifische, komplexe Form des Erlebens von Körper und sozialer Umwelt untersucht. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Performativität frühmittelalterlichen Schmerzerlebens, insbesondere bezogen auf die Räume, die etwa in Kirchen und an Schreinen für bzw. durch Schmerzerfahrungen konstituiert wurden. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts sollen in Form einer Monographie publiziert werden. Zudem wurde im Rahmen des Forschungsstipendiums ein internationales Forschungsnetzwerk "Disability and (Chronic) Pain" aufgebaut.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2020), Art. Mittelalter, Frühe Neuzeit, in: Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, hg. v. Susanne Hartwig, Stuttgart, 141–144
Frohne, Bianca
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_25) - (2020), Disability und das Nicht-Sichtbare: Überlegungen zur visuellen Kultur in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Kritische Berichte, 4, 8–22
Frohne, Bianca
- (2020), Living with Pain: Exploring Strange Temporalities in Premodern Disability History, in: Frühneuzeit-Info, 31, pp. 95-109
Frohne, Bianca