Folter und Körperwissen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt befasste sich mit den Zusammenhängen zwischen Folter (in Form von Handlungsentwürfen wie auch aktualisierten Praktiken) und Körperwissen (als Wissen über den Körper wie auch inkorporiertes Wissen). Dazu untersuchte es drei Folterkomplexe: (1) den der US-Instanzen von Kaltem Krieg bis zum sogenannten ‚War on Terror‘ (bearbeitet von Max Breger), (2) den der Roten Khmer in Kambodscha (bearbeitet von Daniel Bultmann) und (3) den der Militärdiktaturen in Argentinien und Chile (bearbeitet von Christina Schütz). Diese Fälle wurden auf drei Analyseebenen untersucht: der institutionellen Ebene, die den kulturellen, politisch-ideologischen, rechtlichen und organisationalen Kontext umfasst, der Situationsebene, die die Foltersituation als Kopräsenz von Akteuren (und Artefakten) in den Blick nimmt, und der Körperebene, die sich mit den Körperverletzungen und Körpererfahrungen der Folter befasst. Methodisch wurden vor allem Grounded Theory und Situationsanalyse genutzt, ergänzt durch weitere Auswertungsmethoden; bei der Datenerhebung kamen, je nach Fall mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Dokumentrecherchen (in Archiven während der Feldaufenthalte und online), Interviews und einige Beobachtungen zum Einsatz. Das Projekt fasst Folterkomplexe auf Grundlage der empirischen Arbeit mit einem Konzept der situated interconnectedness, wobei lokale Situiertheit und überlokale Verflechtung sich gegenseitig bedingen, ohne ineinander aufzugehen. So lassen sich auf und zwischen den drei Analyseebenen verschiedene Elemente der Folterkomplexe (darunter beispielsweise Materialitäten wie ein Bambusstock oder Wissensflüsse wie die zwischen Wissenschaft und Foltertechniken) einbeziehen. In dieser Konzeptualisierung zeigt sich – auch mit Blick auf aktuelle Debatten zur ‚situationistischen‘ Gewaltforschung –, wie gerade die Kombination einer Binnenanalyse von Situationen mit der Analyse ihrer Verstricktheit nicht nur mit anderen Situationen über die Zeit, sondern auch mit anderen Ebenen des Sozialen, zum Verständnis komplexerer Phänomene, wie der hier untersuchten Folterkomplexe, beitragen kann. Für jeden den untersuchten Folterkomplexe lässt sich eine primäre Falllogik identifizieren, die das auf emischer Ebene dominante Orientierungskriterium bezeichnet und sich auf die fallspezifische Gestaltung der situated interconnectedness niederschlägt: Im US-Fall die Sicherheit (security), im Fall der Roten Khmer Reinheit bzw. Reinigung (purification) und in Chile/Argentinien Kontrolle (control). Die Identifikation dieser primären emischen Falllogiken, die als Anker für den Vergleich der Fälle auf den drei Analyseebenen dienen, bietet einen Ausgangspunkt für die analytische Einbeziehung der weiteren in jedem Fall wirksamen (sekundären) Falllogiken, so dass gezielt Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten solcher Logiken innerhalb der Fälle und zwischen ihnen in den Blick genommen werden können. Die primären Falllogiken wiederum hängen u.a. mit der politisch-ideologischen Positionierung der jeweiligen Folterregime v.a. entlang der Achse Individualismus/Kollektivismus zusammen, was sich in seinen Implikationen bis auf die Situations- und Körperebene beobachten lässt. Das Konzept der situated interconnectedness lenkt den Blick schließlich auch auf die Interaktionsdimension von Folter. Entgegen einer vor allem in der theoretischen Literatur vertretenen Sicht auf Folter als totale Asymmetrie, als Konstellation eines völlig machtlosen Opfers und eines allmächtigen Folterers, zeigt sich in der Projektforschung die Relevanz von Interaktion, also beidseitiger (wenn auch extrem asymmetrischer) Agentschaft. Während sie im Fall der Roten Khmer weitestgehend reduziert ist, spielen gerade die kleinformatigen, aber für die Beteiligten hoch relevanten Widerstandsmöglichkeiten im Fall der US-Folter und in dem Argentiniens und Chiles eine für das Verständnis des Phänomens, aber auch für die Resilienz der gefolterten Gefangenen erhebliche Rolle.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Folter und Körperwissen – Notizen aus der laufenden Forschung. Siegener Working Papers zur Politischen Soziologie (SWoPS) Nr. 1 (Juli 2020). Siegen: Universität Siegen, Seminar für Sozialwissenschaften.
Inhetveen, Katharina; Breger, Max; Bultmann, Daniel & Schütz, Christina
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S-21 as a Liminal Power Regime: Violently Othering Khmer Bodies into Vietnamese Minds. Genocide Studies and Prevention, 14(3), 11-26.
Bultmann, Daniel
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Medical experiments, blood and gall: Revolutionary utilization of the body in Khmer Rouge prisons. In: Ben Kiernan / Eve Zucker (Hg.): Political Violence in Southeast Asia after 1945, London: Routledge, S. 174-187.
Bultmann, Daniel
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„Wir müssen absolut sein“: Folter, Reinheit und Verrat unter dem Regime der Roten Khmer. Soziopolis: Gesellschaft beobachten. Online verfügbar unter https://nbnresolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-80370-3
Bultmann, Danie
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Gleich- und andersartige Körper. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, 91-111. Springer Fachmedien Wiesbaden.
Breger, Max
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Die Gewaltorganisation im Zentralgefängnis S-21, in: Annett Bochman und Felicitas von Weikersthal (Hg.): Institution Lager. Theorien, globale Fallstudien und Komparabilität, Frankfurt/New York: Campus, S. 247-276.
Bultmann, Daniel
