Bewerbungswissen und Bewerbungspraktiken. Die Formierung der Kulturtechnik der Bewerbung im 19. Jahrhundert
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt rekonstruiert die Geschichte der Kulturtechnik der Bewerbung im neunzehnten Jahrhundert. In den Blick geraten dabei die schrittweise, auch begrifflich fassbare Engführung der Bewerbung auf Fragen der Arbeitsmarktkonkurrenz sowie die Herauslösung des Anstellungsgesuchs aus dem Genre der Bittschriften. Auf Grundlage einer umfangreichen und systematischen Erschließung einer Vielzahl archivalisch überlieferter Bewerbungen für verschiedene Dienstverhältnisse und deutsche Länder sowie der zeitgenössischen Ratgeberliteratur wird insbesondere gezeigt, dass bei Bewerbungen lange deren erzählerische Qualitäten – ein Verständnis der Bitte um Anstellung als „Geschichts-Erzählung“ – von besonderer Bedeutung waren. Wo Bewerber in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ihre besondere Würdig- und Bedürftigkeit gegenüber anderen betonten und sich veranlasst sahen, ihre Anstellungsgesuche mit teilweise ausufernden Erzählungen persönlicher und familiärer Schicksale zu begründen, da rückten spätere Bewerber Qualifikation und Eignung in den Vordergrund, versinnbildlicht in ausbildungs- und beschäftigungsbezogenen Lebensläufen, die sich in der uns bekannten Form seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts ausdifferenzierten. Mit Blick auf die Verfahrensseite von Bewerbungen zeigt das Projekt, wie sich vereinzelt bereits im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, deutlicher dann in der zweiten Jahrhunderthälfte Bewerberverzeichnisse und Kandidateneinschätzungen, teilweise bereits in Form vergleichender Gutachten, etablierten. Zudem kann gezeigt werden, dass in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein Nebeneinander schriftlicher und mündlicher Bewerbungen existierte und das Bewerbungsschreiben erst danach schrittweise zum Normalfall wurde. Auch die Art und Weise, wie Bewerber über offene Stellen erfuhren, veränderte sich im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts erkennbar. Entsprechende Informationen erreichten Bewerber in der Regel auf dem Weg von Hörensagen und Gerüchten über etwaige Vakanzen. Eine aufmerksame und kleinteilige Beobachtung der in Frage kommenden Stellen und des jeweiligen Personals war umso wichtiger, als dass Ausschreibungen sich erst seit den 1840er beziehungsweise 1860er Jahren langsam etablierten. Die Projektergebnisse bieten insgesamt wichtige Differenzierungen, Erweiterungen und Vertiefungen hinsichtlich der historischen Arbeitsmarktforschung, der Formierung moderner Leistungs- und Konkurrenzgesellschaften sowie der Geschichte von Patronagepraktiken und Formen der arbeitsmarkbezogenen Vergesellschaftung.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Die Bewerbung. Eine Kulturtechnik des 19. Jahrhunderts, in: Merkur 844 (2019), S. 34-45
Timo Luks
- In eigener Sache. Eine Kulturgeschichte der Bewerbung, 432 Seiten (2022)
Timo Luks