Der bilinguale Erstspracherwerb des Referenzsystems des Deutschen und Polnischen. Eine Longitudinalstudie zum Zusammenspiel interaktionstypspezifischer und morphosyntaktischer Faktoren
Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft, Experimentelle Linguistik, Typologie, Außereuropäische Sprachen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Prozess des Erstspracherwerbs lernen Kinder, sich immer genauer auf Personen, Gegenstände und Sachverhalte in ihrer Umgebung zu beziehen. Dazu müssen sie zunächst Form und Bedeutung nominaler Ausdrücke erlernen, die bestimmte Redegegenstände zu lexikalischen Klassen zusammenfasst und ihnen eine Bezeichnung verleiht (Hund, Tasse, Hunger). Sie müssen außerdem grammatische Mittel erwerben, die bestimmte Aspekte einer solchen Bezugnahme auf die Welt kodieren, und herausfinden, welche kommunikativen Funktionen diese Mittel haben. Das Deutsche nutzt für diese Zwecke vor allem Artikel und Pronomen. Sie zeigen u.a. an, ob es um irgendeinen Vertreter einer lexikalischen Klasse geht (ich hätte gern einen Hund), um einen für den Sprecher identifizierbaren Redegegenstand (ich habe mir einen Hund gekauft), um einen auch dem Hörer bekannten Gegenstand (der Hund bellt schon wieder), oder um einen im Gespräch bereits eingeführten und zugänglichen Gegenstand (er langweilt sich bestimmt). Die genauen Zusammenhänge sind dabei recht komplex und es ist keine einfache Aufgabe, die Funktion dieser grammatischen Markierungen zu durchschauen. Insbesondere die Dimension der Bekanntheit oder der Zugänglichkeit bergen einige Herausforderungen, denn es handelt sich dabei ja um Vermutungen über den Wissensstand des Gegenübers, der besonders für junge Kinder schwer einzuschätzen ist. Im Projekt wurde untersucht, wie bilinguale Kinder die Aufgabe lösen, zwei grammatische Systeme dieser Art parallel zu erwerben, die für die Bezugnahme auf Redegegenstände unterschiedliche grammatische Mitel nutzen. In einer Fallstudie wurde dazu der Spracherwerb eines deutsch-polnischen Kindes im Alter von zwei bis vier Jahren untersucht und mit dem Erwerb einsprachiger Kinder verglichen. Das Polnische unterscheidet sich in dem betroffenen Bereich deutlich vom Deutschen. Insbesondere hat die Sprache keine Artikel. Es werden nur gelegentlich Demonstrativpronomen (ten pies – dieser Hund) oder Indefinitpronomen (jakiś pies – irgendein Hund) verwendet, meist jedoch werden die Funktionen, die das Deutsche durch die Artikelwahl kodiert, durch verschiedene Positionen des nominalen Ausdrucks im Satz ausgedrückt und das Nomen selbst kommt ohne Begleiter aus (pies - Hund). Außerdem hat das Polnische zwar Pronomen, aber diese Pronomen sind nicht obligatorisch und werden nur genutzt, wenn die Bezugnahme besonders hervorgehoben oder kontrastiv ist (ähnlich wie ein betontes Pronomen im Deutschen: on szczeka – DIESER/DER Hund bellt). Interessanterweise ähnelt die frühe Kindersprache eher dem polnischen als dem deutschen System. Kinder verwenden Nomen zunächst ohne Begleiter und auch Pronomen kommen in ihrer Sprache noch nicht vor. Man könnte also meinen, dass das polnische System für sie leicht zu erlernen sei und dass bilinguale Kinder die Eigenschatien dieses Systems auf ihre andere Sprache übertragen würden, wenn diese (wie in unserem Fall das Deutsche) ein System mit mehr obligatorischen grammatischen Unterscheidungen aufweist. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Nachdem das bilinguale Kind Formen und Funktionen der Artikelwörter und der obligatorischen Pronomen im Deutschen schrittweise erworben hatte, wurden diese auf das Polnische übertragen. Das Kind suchte also nach Möglichkeiten, die in einer Sprache systematisch kodierten Funktionen auch in der anderen anzuzeigen, obwohl die überflüssigen Markierungen in einigen Fällen sogar missverständlich waren. Diese Entwicklungsphase des grammatischen Transfers wurde schließlich von einer Phase abgelöst, in der sich beide Sprachsysteme weniger stark beeinflussten. Um herauszufinden, welche Eigenschaften einzelsprachlicher Form-Funktions-Zusammenhänge solche Übertragungen motivieren, sollen die Ergebnisse zur Bezugnahme auf Redegegenstände in der Zukunti mit der Entwicklung in anderen Bereichen (zum Beispiel der Verbstellung und Verbflexion) verglichen werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Die simultane Entwicklung unterschiedlicher Referenzsysteme im bilingualen Erstspracherwerb Deutsch-Polnisch. Der erste Forschungstag des Fachbereichs Philologie der WWU, Münster.
Dimroth, Christine
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Anaphoric reference in a German-Polish bilingual child. Evidence for crosslinguistic influence. TABU Dag 2021, Groningen
Dimroth, Christine
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Anaphoric reference in a German/Polish bilingual child. Evidence for crosslinguistic influence. The expression of reference – acquisition, bilingualism and change in a cross-linguistic perspective, Münster.Anaphoric reference in a German/Polish bilingual child. Evidence for crosslinguistic influence. The expression of reference – acquisition, bilingualism and change in a cross-linguistic perspective, Münster.
Dimroth, Christine
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The acquisition of reference in a German-Polish bilingual child. A longitudinal study on the interaction between morpho-syntax and pragmatics. Conference of Linguistic Representations and Language Processing LiRLaP, Münster.
Dimroth, Christine
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The acquisition of reference in a German-Polish bilingual child. Reference: (co-)construction and use, Grenoble.
Dimroth, Christine
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The development of NPs in a German-Polish bilingual child. International Symposium on Bilingualism, Warschau.
Dimroth, Christine
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Referenz im bilingualen deutsch-polnischen Erstspracherwerb. Dissertation: Universität Münster.
Jachimek, Anna
