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,Behinderte‘ Familien? Aufgabenverteilung und Rollenzuweisungen im Alltag westdeutscher Familien mit behinder-ten Angehörigen zwischen 1945 und den 1980er Jahren

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2018 bis 2022
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 401611833
 
Erstellungsjahr 2022

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Sachbeihilfeprojekt konnte die gesteckten Ziele umfassend erfüllen. Die bisher erschienenen Schriften aus dem Projektzusammenhang stellen einen grundlegenden Beitrag zur Erforschung der Zeitgeschichte behinderter Menschen in Deutschland dar. Das Projekt konnte erstmals den Blick der deutschsprachigen Forschung von stationären Unterbringungen und der politisch-administrativen Verwaltung behinderter Menschen auf ihre häusliche Versorgung lenken. Zudem konnte es mit den Angehörigen behinderter Menschen eine Akteursgruppe in den Fokus stellen, die bisher von der familienhistorischen Forschung übersehen wurde. Die zu Projektbeginn formulierten Hypothesen konnten teils bestätigt und teils widerlegt werden. Die Sorge um behinderte Heranwachsende war in der Tat nochmals persistenter weiblich, als es in Familien mit nichtbehinderten Kindern der Fall war. Die Annahme, dass die Beziehungen und Ehen der Eltern behinderter Kinder grundsätzlich fragiler im Sinne von scheidungs- und trennungsanfälliger waren, konnte hingegen nicht bestätigt werden. Detailliert konnten Binnendifferenzierungen und -hierarchisierungen zwischen verschiedenen Gruppen behinderter Menschen und auch zwischen verschiedenen Familienformen (Kernfamilie, Pflegeund Adoptivfamilien, Alleinerziehende) nachgezeichnet werden. Das Projekt konnte zeigen, dass im Kernfamilienideal der frühen Bundesrepublik die Behinderung eines Kindes keinen Platz besaß. Vielmehr wurden behinderte Kinder in gesellschaftlich anerkannter Weise über Heimunterbringungen aus dem Familienverbund ausgegliedert. Obwohl das Projekt herausstellte, dass behinderte Heranwachsende in Zeiten der Polio-Epidemie und Verkehrsunfällen nicht unsichtbar waren, brachte erst der Contergan-Skandal Anfang der 1960er Jahre Haushalte mit behinderten Kindern schlagartig in den öffentlichen Fokus. Aber, so konnte das Projekt erstmals herausstellen, auch Eltern von Kindern mit anderen Behinderungen konnten sich diese Aufmerksamkeit zunutze machen, um für ihre Anliegen zu lobbyieren. Entgegen der bisherigen Forschungsmeinung konnte das Projekt ebenfalls zeigen, dass Abgrenzungen zwischen der Behindertenbewegung und Eltern vor allem auf der Diskursebene eine Rolle spielten. Im Alltag hingegen, so konnte das Projekt erarbeiten, agierten Aktivist:innen oft gemeinsam mit (integrationsbefürwortenden) Eltern. Die Neuen Sozialen Bewegungen der Frauen- und Behindertenbewegung hatten insgesamt nur wenig Einfluss auf innerhäusliche Sorgearbeitsverteilung. Insgesamt lässt sich somit sagen, dass sich die Lebenslagen der Familien mit behinderten Kindern insgesamt stark verbesserten, dennoch aber ungelöste Herausforderungen bestehen blieben. Die hohe fachwissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz des Sachbeihilfeprojektes zeigt sich auch in seiner öffentlichen Rezeption. Der Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschland verlieh dem Projekt 2021 ein von der Gerda Henkel Stiftung gestiftetes Stipendium für herausragende Promotionsprojekte zum Historikertag in München. Zudem verlieh die Universität Kiel dem Projekt den Genderforschungspreis für herausragende wissenschaftliche Leistungen in diesem Forschungsbereich. Durch die Fortführung und Erweiterung der geschaffenen Kieler Forschungs- und Vermittlungsinfrastruktur (Forschungsdatenbank, digitale Quellenedition) gelang es dem Projekt ebenfalls, das Fundament für zukünftige Forschung zur Disability History zu erweitern.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Behindert/Nicht Behindert. Disability History, in: APuZ 63 (2018), H. 38/39, S. 37-41
    Lingelbach, Gabriele
  • Der Stand der Forschung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70, H. 1/2 (2019), S. 5-21
    Lingelbach, Gabriele
  • Behindertenbewegungen ab den 1960er Jahren, in: Susanne Hartwig (Hg.): Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2020, S. 161-165
    Lingelbach, Gabriele
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_29)
  • Die Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesundheitsfürsorge für Menschen mit Behinderungen in intersektionaler Perspektive, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 38 (2020), S. 105-126
    Lingelbach, Gabriele
  • Disability History. Behinderung als Inhalt historischen Forschens und als Gegenstand im Geschichtsunterricht, in: Sebastian Barsch et al. (Hg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik, Frankfurt/M. 2020, S. 179-187
    Lingelbach, Gabriele
 
 

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