Escaping Freedom. The Path of Young Men into Jihadism
Final Report Abstract
In dem Projekt „Flucht aus der Freiheit. Der Weg junger Männer in den Dschihadismus“ haben wir basierend auf qualitativer Forschung eine Theorie dschihadistischer Karrieren junger Männer aus dem deutschsprachigen Raum entwickelt. Hierfür haben wir ein breites Sample unterschiedlicher Materialien erhoben. Dazu zählen: Narrative Interviews mit ehemaligen Akteuren der dschihadistischen Subkultur, narrative Interviews mit Angehörigen inhaftierter und gefallener Dschihadisten, propagandistische Videos, Vorträge und Texte, Beobachtungen von Prozessen gegen Syrien-Rückkehrer, Expert:inneninterviews und öffentlich zugängliche Berichte über Dschihadisten aus dem deutschsprachigen Raum. Diese Materialien haben wir je nach Aussagewert zur Beantwortung verschiedener Teilfragen unserer Forschung genutzt. Die drei leitenden Fragen, an denen wir uns bei der rekonstruktiven Auswertung orientiert haben, lauten: 1) Was heißt es, Dschihadist zu werden? Das heißt, an welchen geltenden Normen und Idealen orientieren sich die persönlichen Entwicklungsprozesse der jungen Männer innerhalb der dschihadistischen Subkultur. 2) Wie werden junge Männer zu Dschihadisten? Wie also vollziehen sich diese Entwicklungsprozesse lebenspraktisch? Und 3) Warum werden junge Männer zu Dschihadisten? Das heißt, welche sozialen Bedingungen und Dynamiken treiben diesen Entwicklungsprozess ursächlich an. Diese drei Fragen zielen darauf, eine Beschreibung dschihadistischer Karrieren zu entwickeln, die ihrer Kontextabhängigkeit und Prozessualität Rechnung trägt und somit ihre nicht-reduktionistische Erklärung ermöglicht. Konkret haben wir folgende Erkenntnisse gewonnen: Ad 1) Die propagandistische Anrufung entwirft ein Ideal, an dem die jungen Männer ihr Leben orientieren soll. Es fordert, dass sich die jungen Männer in ihrer gesamten Lebenspraxis den religiösen Pflichten der Subkultur unterwerfen. Da zu diesen Pflichten das offensive Agieren gegenüber der feindlichen Umwelt gehört, lässt sich das Ideal als totale, antagonistische und offensive Lebensweise beschreiben. In der Auswertung der Interviews haben wir untersucht, ob dieses Ideal auch für die Akteure Geltung hat. Dies bestätigte sich. Einerseits strukturiert es als soziale Erwartung die Zugehörigkeit zur Subkultur und das Verhältnis unter den Mitgliedern; andererseits bestimmt es als Selbsterwartung die subkulturellen Selbstentwürfe der Akteure. Wer dazugehören und sich im subkulturellen Sinne selbst verwirklichen will, ist aufgerufen, dem totalen Ideal zu folgen. Diese Figuration bezeichnen wir als „totale Subkultur“. Ad 2) Wie wird dieses Ideal lebenspraktisch verwirklicht? Unsere Fallrekonstruktionen zeigen, dass dieser Adaptionsprozess voller Herausforderungen ist. Die totalen und antagonistischen Normen müssen gegen die Widerständigkeit der Welt behauptet werden. Die Verwirklichung des subkulturellen Ideals ist daher ein fortwährender Bewährungsprozess, der sich aus immer neuen Prüfungen zusammensetzt. Diesen Prozess bezeichnen wir als dschihadistische Karriere und dessen Prüfungen als Karriereschritte. Auf Basis all unserer Materialien haben wir fünf typische Karriereschritte und ihre jeweiligen Bewährungsanforderungen herausgearbeitet: Einstieg, Vergemeinschaftung, Disziplin und Gelehrsamkeit, Aktivismus und Standhaftigkeit und schließlich Ausreise und bewaffneter Dschihad. Die Charakterisierungen dieser Schritte ermöglichen es, konkrete Fälle dschihadistischer Karrieren begrifflich zu rekonstruieren. Ad 3) Vor dem Hintergrund dieser Beschreibung dschihadistischer Karrieren lässt sich die Frage nach ihren Ursachen neu konzeptualisieren. Anhand dreier Fälle haben wir die einzelnen Karriereschritte als Handlungssituationen rekonstruiert und dadurch Bedingungen und Dynamiken identifiziert, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Karriere dazu führen, dass sich junge Männer der subkulturellen Bewährungsdynamik hingeben und an ihr festhalten, auch wenn sie mit schwierigen Herausforderungen konfrontiert sind. Vier typische Ursachen haben wir hierbei herausgearbeitet: Gelegenheiten zur lebenspraktischen Problembewältigung; kollektive Dynamiken, die sich aus der Integration in die subkulturelle Gemeinschaft ergeben; Konfliktdynamiken, die im konflikthaften Kontakt mit der subkulturellen Umwelt entstehen können; und schließlich subkulturelle Praktiken, die auf Basis weltanschaulicher Deutungen die Bewältigung karrierebedingter Herausforderungen ermöglichen. Auf Basis dieser Konzepte können die Verläufe und Ursachen dschihadistischer Karrieren umfassender beschrieben und erklärt werden, als es die bisherige Radikalisierungsforschung mit ihren Begriffen leisten konnte. Dies wird aktuell im Rahmen einer abschließenden Monographie von Felix Roßmeißl ausgearbeitet und nach Abschluss veröffentlicht.
Publications
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Die Verhimmelung der Autorität. Freiheit, Aggression und Unterwerfung in der dschihadistischen Subkultur. Vortrag auf dem DGS-Kongress: Adhoc-Gruppe »Rebellischer Autoritarismus«, 15. September.
Roßmeißl, Felix
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Radikalisierung. Zur Kritik eines Erklärungsmusters des westlichen Dschihadismus. WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 17 (1): 125–140.
Roßmeißl, Felix
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Dschihadistische Karrieren in der Migrationsgesellschaft – Was erklärt der biografische Hintergrund?. Migration und Soziale Arbeit(1), 63-71.
Roßmeißl, Felix
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Subkulturforschung. 10 Minuten Soziologie: Gewalt, 99-114. transcript Verlag.
Roßmeißl, Felix
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‚Doing Family‘ in Western Jihadist Subculture and Its Effects on Radical Careers. Vortrag beim XX ISA World Congress of Sociology: Session »Politics, Family, and Familial Relationships«, Melbourne, 01. Juli.
Roßmeißl, Felix
