Zu Land und auf der See. Medizinische Geografie im Russischen Reich (1770-1870)
Wissenschaftsgeschichte
Zusammenfassung der Projektergebnisse
An der Schnittstelle von Imperialgeschichte und Medizingeschichte fragte das Projekt nach der Funktion von Ärzten und medizinischem Wissen für die Expansion und Konsolidierung des Zarenreichs zwischen 1770 und 1780. Der Zeitraum war nicht nur die letzte große Expansionsphase der zarischen Autokratie (mit Eroberungen auf der Krim und in der Steppenregion, von Alaska und der Amur-Region, im Kaukasus und Zentralasien), sondern auch eine Umbruchzeit der medizinischen Forschung und Praxis sowie eine Periode der Professionalisierung von Ärzten. Sie emanzipierten sich zwar nicht von der Kontrolle der Regierung – schon weil Staat und Militär der Hauptarbeitgeber blieben. Doch Ärzte spielten nicht nur eine Vorreiterrolle in der Modernisierung des zarischen Staatsdiensts, insbesondere in der Aufwertung wissenschaftlichen, systematisch generierten Wissens und formaler Ausbildungswege. Ärzte lieferten auch systematisches Wissen über das russländische Imperium, insbesondere über die neu eroberten Territorien. Wegen der Unterbesetzung und Unterbezahlung des medizinischen Apparats blieben viele dieser Projekte unverwirklicht. Mit seiner Analyse medizinischer Expertise knüpfte das Projekt an die für die europäischen Übersee-Kolonien schon länger thematisierte Rolle von Medizinern als Stützen imperialer Herrschaft an. Ärzte kümmerten sich um den Schutz der Eroberer vor den so unbekannten wie gefährlichen Krankheiten der Unterworfenen und entwarfen mit Hygieneregeln mächtige Instrumente der Disziplinierung. Sie trugen so zur Konstruktion des kolonialen „Anderen“ bei. Wenn auch diese Unterscheidung im Landimperium der Zaren unschärfer blieb. Den konzeptionellen Zugang zu dem Untersuchungszeitraum öffnete die zeitgenössische Debatte über medizinische Geografie – eine keineswegs nur von Ärzten geführte Diskussion über den Einfluss auf der Umwelt auf Gesundheit und Krankheit und auch darüber, wie durch die Manipulation der Umwelt oder vorausschauendes Handeln Gesundheit und Krankheit kontrolliert werden könnten. Medizinische Geografie war ein auch unter russischen Ärzten populäres Konzept, das sich von der antiken „Säftelehre“ abgrenzte und auch mit dem Durchbruch des bakteriologischen Paradigmas im späten 19. Jahrhundert keineswegs verschwand. Das Projekt war eine binationale Kooperation, doch in der Praxis zerfiel es nicht in zwei Teile. Vielmehr bewährte sich die Verflechtung der insgesamt sechs Teilprojekte, die komplementäre Themen (arktisches Klima vs. heißes Steppenklima) behandelten oder den Transfer imperialer Expertise aus verschiedenen Perspektiven (ideen- und sozialgeschichtlich) untersuchten. Diese Verzahnung der Projekte zeigt auch das (bislang) wichtigste Ergebnis: eine Kollektivmonografie über medizinische Geografie im Zarenreich.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Medicina na voennykh sudach [Medizin auf Kriegsschiffen], in: Renner, Vishlenkova (Hg.): Istorija mediciny i medicinskoj geografii, S. 299-322.
Lisitsyna, Elena
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Mediko‐biologičeskoe obosnovanie sostojanija rossijskich gorodov v trudach I.J. Lerche i E.D. Klarka [Medizinisch-biologische Gründe für den Zustand der russischen Städte in den Werken von J.J. Lerche und E.D. Clarke], in: Novoe prošloe, 2017, No. 1, S. 132‐146.
Lisitsyna, Elena
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Istoričeskoe izučenie medicinskoj geografii v Rossii (Historische Erforschung der medizinischen Geographie in Russland), in: Problemy social’noj gigieny, zdravoochranenija i istorii mediciny, 5/2019, S. 924-929.
Renner, Andreas & Višlenkova, Elena
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Polish medicine in the Russian Empire in the first third of the 19th century. Kwartalnik Historii Nauki i Techniki, (2), 61-78.
Vishlenkova, Elena & Zatravkin, Sergiei
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Rossijskie vrači v poiskach jazyka samoanaliza: ponjatija nasilija i gumanosti v professional’nom diskurse psichatrov Rossijskoj imperii, konec XIX-načalo XX v.), (Russische Ärzte auf der Suche nach einer Sprache der Selbstanalyse: Vorstellungen von Gewalt und Menschlichkeit im professionellen Diskurs der Psychiater des Russischen Reiches (Ende des 19. - Anfang des 20. Jahrhunderts), in: Voprosy istorii estestvoznanii i techniki 40 (2019), S. 292–321
Mitrofanov, Ruslan
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From a Natural Object to a Medical Resource: The Production of Knowledge about Petroleum by Johann Jakob Lerche. Kwartalnik Historii Nauki i Techniki, (2), 9-28.
Lisitsyna, Elena
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Karantiny i sanitarnye konvencii Rossii s severnymi morskimi deržavami (pervaja tret’ XIX veka) (Russlands Quarantänen und Sanitätskonventionen mit den nördlichen Seemächten (erstes Drittel des 19. Jahrhunderts), in: Voenno-meditsinskii zhurnal 341 (2020), No. 8, S. 73-83
Višlenkova, Elena & Zatravkin, Sergej
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The finances and statistics in materials of the G. E. Rhein Commission. Problems of Social Hygiene Public Health and History of Medicine, 28(2).
Yakovenko, V. A.
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Belilovskij: Biografija medika v kontekste ėpochi (Belilovsky: Biographie eines Arztes im Kontext der Epoche), in: Novoe proshloe (2021 г.)
Jakovenko, Vjačeslav
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Bolezni Rossii: mediko-geografičeskie issledovanija I. Ja. Lerche [Krankheiten von Russland: Medizinisch-geographische Studien von J.J. Lerche], in: Problemy social‘noj gigieny, zdravoochranenija i istorii mediciny, 2021, No 4, S. 1011–1016.
Lisitsyna, Elena
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Hot climates theories in European medical literature of modern times. Диалог со временем, (77), 210-227.
Афанаcьева, А.Э.
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Istorija mediciny i medicinskoj geografii v Rossijskoj imperii [Geschichte der Medizin und der medizinischen Geografie im Russländischen Reich], Moskau 2021. ISBN : 978-5-907348-20-2.
Renner, Andreas & Višlenkova, Elena (Hg.)
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Legal regulation of the supply of medicines to the army and the public in the Russian Empire in the fi rst half of the 19th century. Istoriya meditsiny, 7(1), 13-22.
Vishlenkova, Elena & Sharykin, Anton
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Medical Geography in Imperial Russia. Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 69(1), 3.
Afanasyeva, Anna; Renner, Andreas & Vishlenkova, Elena
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The becoming and development of departmental medical statistic in Bavaria and Prussia (1800—1871). Problems of Social Hygiene Public Health and History of Medicine, 29(3).
Gatina, Z. S. & Mitrofanov, R. S.
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Climate, Disease and Imperial Expansion: Medico-Geographical Exploration of the Kazakh Steppe Between the 1760s and 1860s. Диалог со временем, (79), 57-73.
Афанасьева, А.Э.
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Epidemic and sanitary charts and tables of the second half of the XIX century as the “health passports” for Russian territories. Hygiene and sanitation, 101(1), 102-107.
Vishlenkova, Elena A. & Zatravkin, Sergei N.
