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Russländisch-sowjetischer Weinbau in globalgeschichtlicher Perspektive (1860-1941)

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2018 bis 2023
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 409727709
 
Erstellungsjahr 2023

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Der Weinbau gehörte im Zarenreich vor 1914 zu dem Dutzend landwirtschaftlicher Sparten bzw. Gewerbe mit der größten Wertschöpfung. Der volkswirtschaftliche Gesamtwert aller Weingärten betrug mehr als 0,5 Mrd. Rubel. Regional war seine Bedeutung umso größer. In Teilen Bessarabiens, Chersons oder des Kaukasus war er einzige oder Haupteinnahmequelle bäuerlicher Wirtschaften. Kulturell besaß Wein herausragende Bedeutung – hier sei nur auf die Eucharistie verwiesen. Die Tradition der orthodoxen Kirche, einen dunkelroten, süßen stark alkoholischen Wein zu verwenden, prägte den Geschmack weiter Konsumentenkreise. Letztere fragten süße und gespritete Weine nach und konterkarierten damit die Anstrengungen von Winzern, Experten und der Behörden, Weinfälschung zu unterbinden. Der Messwein fiel nicht unter das russländische Weingesetzes von 1914 und wurde wegen seines hohen Preises oft gefälscht. Ein im Sinne Pierre Bourdieus umfassend zu verstehender Mangel an „Kapital" subsummiert prägnant die strukturellen Charakteristika des russländischen und sowjetischen Weinbaus. Zu nennen sind u.a. mangelnde Kenntnisse in Weinbau und Kellerwirtschaft als Folge fehlender Bildungseinrichtungen, kaum landwirtschaftliche Kredite, unzureichende Verkehrsinfrastruktur, hohe Transportkosten und schließlich ein wenig kapitalkräftiger Markt mit einseitigem Konsumenteninteresse jenseits der Weinbauregionen. Die Sozialisierung des Landes und die Expropriation der Weingüter nach Oktober 1917 stellten keine entscheidende Zäsur im Weinbau dar. Vielmehr ist von einem „Kontinuum der Krise" zu sprechen: Die Krise setzte mit Kriegsbeginn 1914 ein, als viele Städte im Reich den Weinverkauf verboten. Dies schädigte die Produzenten erheblich. Wegen Arbeitskräftemangels infolge der Mobilisierung wurden die Weingärten vernachlässigt. Hinzu kam die allgemeine Teuerung, der sukzessive Verfall der Verkehrsinfrastruktur, Engpässe bei benötigten Fungiziden, Pestiziden, Rebstöcken, Maschinen und Gerätschaften infolge fehlender Importe und unzureichender heimischer Produktionskapazitäten. Bis 1922 verringerte sich die Weinfläche um ein Drittel. Erst 1926 erreichte der Weinbau, den in der UdSSR ca. 97% werktätige oder genossenschaftlich organisierte Bauern in Kleinstwirtschaften betrieben, Vorkriegsniveau. Die Zwangskollektivierung beendete die wirtschaftliche Konsolidierung und brach mit den tradierten Weinbaupraktiken. Zarischer und sowjetischer Weinbau orientierten sich an westeuropäischen Vorbildern. Die Reblausbekämpfung oder das Weingesetz von 1914 zeigen mit ihren diskursiven Bezugnahmen, internationalen wissenschaftlichen und personalen Verflechtungen, ihren teils gescheiterten Transfers und Wechselwirkungen nachhaltig die Bedeutung der im Projekt verfolgten globalgeschichtlichen Perspektive. Dies galt auch für die kulturelle Dimension: Gerade der mit dem Weingenuss assoziierte Lebensstil war ein wesentliches Element der kul’turnost‘ des Regimes unter Stalin.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Weinbau, Weinhandel und Weinkonsum im Zarenreich vor dem Ersten Weltkrieg, in: Deutsches Weinbau Jahrbuch 72 (2021), S. 129-136
    Lutz Häfner
  • Winegrowing and Winemaking in Russia: the Late Nineteenth Century to October 1917, in: Journal of Modern Russian History and Historiography 15 (2022), S. 5-38
    Lutz Häfner
  • Zwischen weiß und rot: Probleme des Weinbaus in Russland und der Sowjetunion 1914- 1929, in: Deutsches Weinbau Jahrbuch 73 (2022), S. 87-95
    Lutz Häfner
  • In vino veritas? Weinproduktion und Weinfälschung in Russland im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Deutsches Weinbau Jahrbuch 74 (2023), S. 103-112
    Lutz Häfner
 
 

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