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Civil Society zwischen Patronage, primordialer (familiärer) Verpflichtung und ökonomischer Rationalität. Schuldner und Gläubiger in einer Stadt-Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts.

Antragstellerin Professorin Dr. Carola Lipp
Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2007 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 41673225
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das datenbankgestützte Projekt untersucht einen städtischen Hypothekarmarkt und die soziale, politische und lebensweltliche Einbettung des individuellen Kreditverhaltens in die Alltagskultur der frühindustrialisierten Stadt Esslingen im 19. Jahrhundert. Von Interesse sind die Bedingungen der Kreditvergabe (Unterpfandsobjekt, Kredithöhe, Beleihwert, Zinsvarianz, Anlass des Kredits, Kredittyp, Tilgung, Cessionen). Überraschend war die große Zahl von Kleinkreditaufnahmen und die Schuldenketten einzelner Schuldner sowie die kurze Dauer von Krediten, die auf regen Kredithandel hindeuteten. Ein zweiter Fragenkomplex betrifft die innere Struktur des Kreditmarkts, das Verhältnis von Privat- zu institutionellen Krediten, und mehr noch die Rolle traditionaler Institutionen wie Kirche und Gemeinde auf dem Kreditmarkt. Verblüffend hier die große ökonomische Bedeutung von Pflegschaften i.e. Vermögensverwaltungen. Der eigentliche Fokus des Projekts liegt indessen auf den Akteuren, deren Verhalten als Gläubigern und Debitoren systematisch auf dem Hintergrund verschiedener anderer innerstädtischen Beziehungen untersucht wird, wobei dieser Zugang von einer kulturellen Homologie zwischen Kreditverhalten und anderen sozialen und politischen Verhaltensweisen ausgeht und den Kreditmarkt als dynamisches Feld mit sozialen und nicht nur ökonomischen Regeln begreift. Dieser Ansatz zeigt, dass sich das Verhalten einzelner Gruppen auf dem Markt analog zu ihrer sozialen Situation und zu ihren beruflichen Laufbahnen erheblich unterschied. Handwerker z.B. vergaben häufig Darlehen unter Ihresgleichen und neigten zu Reziprozität; Kaufleute bevorzugten eine Streuung ihrer Geldanlagen und frequentierten den sekundären Kreditmarkt. Beamte, die aufgrund ihrer Laufbahnen eher an Renten interessiert waren, fallen als die vermögendsten und krediterfahrensten Geldgeber auf. Andere Gruppen traten eher als Debitoren in Erscheinung. Ein spezieller Teil der Untersuchung ist den Institutionen der Civil Society gewidmet, z.B. Vereinen, die als Kommunikations- und Verhandlungsraum für Kredite fungierten. Die Bedeutung der Verwandtschaft jenseits direkter innerfamiliärer Kredite, die nur einen geringen Prozentsatz ausmachten, erwies sich im System der Realteilung als sehr komplex. Wichtige Fragen gelten schließlich dem Zusammenhang von Religion und Kredit. Untersucht wird zum Beispiel das Kreditverhalten jüdischer Kredithändler, deren Agieren auf dem Kreditmarkt bestimmt war von den Restriktionen, denen sie unterlagen, aber auch von den Möglichkeiten, die die Judenemanzipation mit sich brachte. Verblüffend war auch die große Präsenz von ortsansässigen wie auswärtigen Pfarrern auf dem Hypothekarmarkt. Ein zentraler Teil des Projekts befasst sich mit der Konkurswelle in den 1850er Jahren und der ihr zugrundeliegenden Kreditblase aus den Takeoffjahren der Esslinger Industrialisierung ebenso wie mit den Folgen für die Betroffenen (Auswanderung etc).

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2007) Aspekte der mikrohistorischen und kulturanthropologischen Kreditforschung. In: Schlumbohm, Jürgen (Hg.): Zur sozialen Praxis des Kredits. Göttingen 2007, S. 15-36
    Lipp, Carola
  • (2010): Dunkle Andeutungen, anonyme Anschuldigungen, persönliche Beleidigungen. Die Erzeugung von Alterität in einem publizistischen Konflikt über Wucherzinsen zur Zeit der Gewerbekrise 1848. In: Schmidt-Lauber, Brigitta/Schwibbe, Gudrun (Hg.): Alterität. Göttingen 2010, S. 63-84
    Lipp, Carola
  • (2012) : Corporate Birthmarks of Civil Society: Kinship and kinship networks in the early 19th century. In: Nautz, Jürgen/Ginsborg, Paul/Nijhuis, Ton (Hg.): The Golden Chain: Family, Civil Society and the State. Berghahn Books Oxford/New York 2012, S. 101-119
    Lipp, Carola
  • (2013): Zufall, Chance, Risiko, Kontingenz und die kapitalistische Geldökonomie. In: Kuckuck. Notizen zur Alltagskultur 28, 2013, S. 71-97
    Vogel, Anna-Carolina
  • (2015): Credit, Trust, and Social Networks: Mortgage Credit in the Industrializing Town of Esslingen. In: Gestrich, Andreas/Stark, Martin (Hg.): Debtors, Creditors, and their Networks: Social Dimensions of Monetary Dependence from the Seventeenth to the Twentieth Century. London 2015, S. 71-99
    Vogel, Anna-Carolina
 
 

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