Die Stellung Gustav Jacobsthals in der Geschichte der Musikwissenschaft, exemplarisch dargestellt anhand einiger Forschungsergebnisse in seinem Nachlass
Final Report Abstract
Die im Dezember 2006 ausgesprochene Bewilligung des Stipendiums war mit der Empfehlung der Gutachter verknüpft, die Anzahl der im Plan des Vorhabens aufgeführten musikgeschichtlichen Themen zu reduzieren. Dieser Anregung habe ich vor Beginn der eigentlichen Arbeiten dadurch entsprochen, daß ich zwei der beantragten Arbeitsgebiete aus dem zu bewältigenden Pensum strich. Dabei handelte es sich um die ursprünglich ebenfalls noch beabsichtigte Behandlung folgender Beziehungen: einerseits der im Nachlaß überlieferten Studien Jacobsthals über Sebastian Bachs Choralbearbeitungen zu den diesbezüglichen Veröffentlichungen seines Schülers Albert Schweitzer, sowie andererseits der Studien Jacobsthals über die Alteration im liturgischen Gesang zur benediktischen und vatikanischen Restauration des gregorianischen Chorals, an der auch sein Schüler Peter Wagner beteiligt war. Diese beiden Themen habe ich aus dem laufenden Projekt ausgeschieden, um sie im Rahmen einer im Anschluß geplanten wissenschaftsgeschichtlich orientierten Biographie Jacobsthals unterzubringen, wozu sie sich gut eignen, da sie institutions- und personalgeschichtlich geprägt sind. Statt dieser beiden Themen habe ich in das Projekt einen im Antrag nicht genannten Komplex mit aufgenommen, der bereits im Zeitraum zwischen meiner Promotion und der Bewilligung des Antrags fast fertig ausgearbeitet war. Es handelte sich dabei um die Entzifferung, Redigierung und Kommentierung von Jacobsthals Vorlesungsskizzen zu Mozarts Oper Idomeneo. Um die Kommentierung abzuschließen, bedurfte es noch einiger kleinerer Recherchen, besonders anhand des inzwischen erschienenen Kritischen Berichts zur Partiturausgabe dieser Oper im Rahmen der Neuen Mozart Ausgabe (NMA), sowie der Konsultation neuester Literatur, besonders des Opernbandes aus dem Mozart-Handbuch des Laaber-Verlages. Durch diese Aufnahme konnte ich nicht nur das in Angriff zu nehmende Projekt unmittelbar an den Gegenstand meiner Dissertationsschrift (über Mozarts Kindheitsopern) anschließen, sondern dadurch ergab sich auch ein guter Übergang zu dem im Antrag angekündigten Komplex des Verhältnisses von Emanuel Bachs Württembergischen Sonaten zu Haydns und Mozarts frühen Streichquartetten. Im übrigen fügte sich die Art der Darbietung, nämlich redigierte Vorlesungsskizzen mit Stellen-Kommentar und Einführung zu bieten, genau in die Überlegungen ein, die ich zur Gestaltung der Ergebnisse meines gesamten beantragten Editionsprojekts anstellte. Angesichts der sehr detaillierten und einen unzerreißbaren Zusammenhang bildenden Argumentationsketten Jacobsthals in seinen Manuskripten schien es ratsam, eine Darbietungsform zu wählen, die große Teile der Vorlesungen integral publizieren würde. Mein Entschluß ging also in die Richtung, ein Buch mit Vorlesungen und Studien Jacobsthals zu veröffentlichen, für das ich die Rolle eines Herausgebers, Redaktors und Kommentators zu übernehmen hätte. Die Durchführbarkeit dieses Konzeptes erwies sich nicht nur am Beispiel der Idomeneo-Vorlesung, sondern auch an der nun in Angriff genommenen Vorlesung über die frühen Streichquartette Haydns und Mozarts und den dort eingefügten längeren Exkurs über Emanuel Bachs Württembergische Sonaten als positiv. Die Lesbarkeit und Handhabbarkeit der Textsorte einer redigierten und kommentierten Vorlesungsskizze war Gegenstand von Beratungen mit meiner Kontaktprofessorin Susanne Fontaine, sowie von Diskussionen in dem gemeinsam mit Frau Prof. Dörte Schmidt veranstalteten Colloquium im Fachbereich Musikwissenschaft der Fakultät Musik der UdK Berlin, anhand von ausgesuchten Textbeispielen zu diesem Komplex. Unter der Voraussetzung einer den Leser in besonderer Weise in diese Textsorte einführenden Vorbemerkung wurde dieser publizistische Weg als zwar nicht unproblematisch, aber gangbar empfunden. Zu den neben dem Hauptthema (Codex Montpellier) aus dem ursprünglichen Antrag übrig bleibenden drei kleineren Themen veranschlagte ich einen Zeitraum von ca. je vier Monaten pro Thema für die mit ihnen verbundenen Entzifferungs- und Kommentierungsarbeiten, sodaß diese zusammen im ersten Jahr des bewilligten Zeitraums bearbeitet sein könnten. Diesen Zeitplan konnte ich für die Arbeiten an den Komplexen: 1. Emanuel Bachs Württembergische Sonaten und Haydns und Mozarts frühe Streichquartette, 2. Monteverdis Oper L’Orfeo, 3. die weltlichen Madrigale Palestrinas auch einhalten. Als Grundlage der Entzifferungen ließ ich von der lagernden Bibliothek photomechanische Kopien der jeweiligen hs. Konvolute erstellen. Zwar konnte ich in meinem Kommentar auf Stellennachweise zu den von Jacobsthal erörterten Kompositionen anhand moderner kritischer Ausgaben weitgehend verzichten, da Jacobsthal eine derart dichte Beschreibung des Ablaufs der Kompositionen gibt, die es jedem Leser anhand jedweder Noten-Ausgabe oder sogar beim bloßen Hören der Werke erlauben, die punktuellen Erörterungen nachzuvollziehen, trotzdem habe ich selber Jacobsthals anhand älterer Ausgaben vollzogenen Analysen an modernen Ausgaben überprüft, wenn nötig Jacobsthal unterlaufene Fehler korrigiert und an besonders pointierten Stellen auch entsprechende Verweise, insbesondere anhand der Neuen Mozart Ausgabe (NMA), gegeben. Für Monteverdis L’Orfeo konnte ich Jacobsthals Seitenzählung beibehalten und direkt übernehmen, da von dem von ihm benutzten Erstdruck der Oper, Venedig 1609, heute zwei Faksimile-Ausgaben im Handel sind. In den Einführungen zu den jeweiligen Kapiteln versuchte ich, Jacobsthals Ausführungen zu dem Stand der Forschung einerseits seiner Zeit, andererseits dem heutigen in Beziehung zu setzen, um das Spezifische seiner Anschauungen herauszuarbeiten. Nur im Falle äußerst schwer lesbarer, mit weichem Bleistift geschriebener, flüchtig hingeworfener Notizen für das Gutachten Jacobsthals über Peter Wagners Dissertationsentwurf zu Palestrinas weltlichen Madrigalen war eine langwierige Transkriptionsarbeit an der Originalhandschrift unumgänglich. Die Madrigale selber mußten anhand moderner Ausgaben verglichen und teilweise in den Stellenkommentaren nachgewiesen werden, ebenso die Textgrundlagen Palestrinas anhand des Canzoniere Petrarcas. Eine weitere kleine Verzögerung ergab sich durch die letztlich ergebnislose Suche nach dem hs. Entwurf von Peter Wagners Dissertation, über dessen Existenz der von der Kantonal- und Universitätsbibliothek in Fribourg/Schweiz bestellte Nachlaßverwalter binnen eines Jahres keine Auskunft erteilen konnte. Trotzdem war es nach Abschluß der Hauptarbeiten auch an dem letzten der drei kleineren Themen möglich, pünktlich zum Februar 2008 mit dem großen fünften Themenkomplex des Codex Montpellier zu beginnen. Im Laufe der ersten Hälfte des Berichtszeitraums konnten folgende das Forschungsprojekt betreffende Publikationen erscheinen: eine englischsprachige Version einer Zusammenfassung von Jacobsthals Mozart-Rezeption, die sich schon auf einige kürzere Einsichtnahmen in Themenbereiche des DFG-Projekts stützen konnte (in der israelischen musikologischen On-line-Zeitschrift Min-Ad, 2006/2, erschienen Frühjahr 2007); ein bibliothekarischer Bericht über den Fund und den Stand der Erschließung von Jacobsthals Nachlaß in der Berliner Staatsbibliothek (in: Forum Musikbibliothek, 2007/1). Für das quantitativ und qualitativ gewichtige Thema der Motette in der frühen Mehrstimmigkeit, dessen Bearbeitung den gesamten Zeitraum der zweiten Hälfte des Stipendiumzeitraums in Anspruch nehmen sollte, war es zunächst erforderlich, aus den sehr umfangreichen und verstreuten Überlieferungen innerhalb von Jacobsthals Nachlaß anhand eines von mir erstellten 30seitigen Inventars zum Thema Codex Montpellier und direkter Einsichtnahme in einzelne Nachlaßteile jene Konvolute auszuwählen, deren Entzifferung und Edition geeignet wären, ein klares und deutliches Bild von Jacobsthals Arbeitsweise und den vorläufigen Resultaten seiner langjährigen Untersuchungen zu vermitteln. Als besonders gewinnbringend erwies sich die Entdeckung, daß zu 16 Übertragungen, die im Nachlaßteil D (Abschriften und Transkriptionen) enthalten sind, auch gesonderte spezielle Anmerkungen Jacobsthals erhalten sind, die eine kombinierte Veröffentlichung von faksimilierten Notenblättern und dazugehörigen Kommentaren erlaubten. Letztlich ergab sich, daß aus den Vorlesungsbeständen jene Passagen bearbeitet werden müßten, die besonders die Übergangsphase von der Ein- zur Mehrstimmigkeit thematisieren und daß als Kernstück von Jacobsthals Bearbeitung des Codex Montpellier sechs Komplexe aus ca. 600 Seiten Notizblättern im Nachlaßteil CI4 anzusehen sind, in denen die einzelnen Blätter alle thematische Überschriften tragen und sich auf einzelne Stücke des Kodex beziehen. Um alle von Jacobsthal in diesen Notizen verwandten Begriffe, Zitate und Figurenzeichnungen aus der Mensuralnotenschrift richtig interpretieren zu können, war es für mich als Nichtmediävisten, der bisher nicht ständig mit dieser Materie beschäftigt war, erforderlich, ein kleines Repetitorium der Grundbegriffe und Anwendungen der Mensuralnotenschrift durchzuführen. Dies geschah einerseits anhand der von mir transkribierten hs. Übersetzung Heinrich Bellermanns des Traktats von Franko von Köln über mensurierte Musik, die sich in Jacobsthals Nachlaß befand, andererseits anhand Jacobsthals eigener Darstellung der Mensuralnotenschrift des 12. und 13. Jahrhunderts, um eine terminologische Übereinstimmung mit seinem Gebrauch der Bestimmungen zu gewährleisten sowie anhand der Ausführungen in den diesbezüglichen Bänden der Geschichte der Musiktheorie des Staatlichen Instituts für Musikforschung aus den 90ger Jahren des 20. Jahrhunderts. Als problematisch bei der Entzifferung der Jacobsthalschen Notizen erwiesen sich die originalsprachlichen Zitate, betreffend das Mittellatein, das Altprovenzalische und das Altfranzösische. Soweit es Liedtexte aus dem Codex Montpellier betraf, war der Vergleich mit dem von Jacobsthal veranstalteten diplomatischen Abdruck des Codex von 1879 möglich, soweit es Liedtexte aus anderen Codices betraf, mußten diese anhand anderer zeitgenössischer, von Jacobsthal selbst benutzter oder moderner Ausgaben überprüft werden, selbst Internet-Recherchen waren hilfreich. Soweit es mittellateinische Traktat-Auszüge betraf, mußten sie anhand der von Jacobsthal benutzten Quellen (besonders Coussemaker, Scriptores) und moderner Einzelausgaben überprüft werden. In den Stellenkommentaren zu diesem Kapitel konnten nur vereinzelt historisch klarstellende oder sachlich korrigierende Hinweise gegeben werden. Für die öffentliche Präsentation dieser Notizkonvolute war ihre thematische Gliederung unumgänglich, welche Jacobsthal selbst nur unter einem einzigen Gesichtspunkt, nämlich der Sammlung seiner Notizen zu Fragen der Refrains unter dem Titel „Refrain-Blätter“ vorgenommen hatte. Unter sechs weiteren Rubriken (Tenores, Rhythmus, Harmonie, Priorität der lateinischen oder französischen Textierung, Herkunftsbestimmungen und Sonstiges) habe ich die Notizen dann inhaltlich sortiert und so zusammengefügt, daß Verstreutes aber Zusammengehöriges vereinigt werden konnte. Dadurch mußte die Reihenfolge der Notizen geändert und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Nachlaßteilen aufgegeben werden. Die Kommentierung dieses Komplexes beschränkt sich auf unvermeidliche Hinweise in den Stellenanmerkungen und auf eine qualifizierende Darstellung der Forschungsgeschichte zum Codex Montpellier in der Kapiteleinführung, in deren Rahmen auch die Bedeutung der Untersuchungen Jacobsthals und ihre Stellung zur vor und nach seiner Zeit stattfindenden Forschung umrissen werden konnte. Ein inhaltlicher Vergleich en detail zwischen Jacobsthals Übertragungen und denen anderer Forscher konnte in diesem Rahmen nicht geleistet werden und bleibt eine spätere Aufgabe der musikalischen Mediävistik, wenn Jacobsthals edierte Notizen in den Forschungsstand integriert sein werden. Im Laufe der zweiten Hälfte des Berichtszeitraums konnten folgende das Forschungsprojekt betreffende Publikationen erscheinen: ein Vorabdruck von Jacobsthals Rekonstruktion des historischen Instrumentariums in Monteverdis L’Orfeo in dem Magazin für Alte Musik Concerto (erschienen im April 2008) und eine Kritik an der heutigen Editions- und Aufführungsgestalt des Mozartschen Idomeneo, die sich auf Hinweise und Fragestellungen Jacobsthals in seinen Idomeneo-Vorlesungen von 1888 stützt (im Verbandsorgan der musikforschenden Gesellschaft Die Musikforschung, erschienen im dritten Heft des Jahrgangs 2008). Während der letzten Korrektur- und Kommentierungsarbeiten im Laufe des Dezember 2008 konnte ich die Suche nach einem geeigneten Verlag für diese Edition beenden und einen Vertrag mit dem Verlag Georg Olms in Hildesheim abschließen. Der Januar 2009 war der Endredaktion des gesamten Buches gewidmet, das nun unmittelbar nach Beendigung des Stipendiums in den Satz gehen kann. Es wird den Titel tragen: „Übergänge und Umwege in der Musikgeschichte. Aus Gustav Jacobsthals Straßburger Vorlesungen und Studien. Herausgegeben von Peter Sühring“.